Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
zielte auf die geöffnete Kühlschranktür. Beschleunigte und bugsierte Truls Berntsen durch die Öffnung, doch der blutige Körper rutschte gleich wieder heraus.
Harry versuchte, ihn hineinzudrücken, aber es nützte nichts. Er zog Berntsen vom Kühlschrank weg und zeichnete rote Streifen auf das Linoleum. Dann ließ er ihn los, zerrte den Kühlschrank von der Wand weg, hörte den Stecker aus der Wand schnacken und kippte den Schrank zwischen Arbeitsplatte und Herd auf den Rücken. Er packte Berntsen, drückte ihn von oben hinein, kroch hinterher und drückte ihn mit den Beinen so weit wie nur möglich nach unten in Richtung Kühlschrankmotor. Dann legte er sich auf Berntsen und sog den Geruch von Blut, Schweiß und Pisse ein. Wenn man auf einem Stuhl saß und wusste, dass man ermordet werden würde, nässte man sich ein.
Harry hatte gehofft, es wäre genug Platz für sie beide, da das Problem in erster Linie in Höhe und Breite des Schrankes bestanden hatte, nicht aber in der Tiefe.
Doch jetzt war die Tiefe das Problem.
Er bekam die Tür nicht zu.
Harry zog mit aller Kraft, aber es ging nicht. Es fehlten weniger als zwanzig Zentimeter, aber wenn die Tür nicht hermetisch geschlossen war, hatten sie keine Chance. Die Druckwelle würde ihnen Leber und Milz zerreißen und die Hitze ihnen die Augäpfel wegbrennen. Jeder lose Gegenstand im Raum würde zur Gewehrkugel beschleunigen, der reinsten, alles zerfetzenden Maschinengewehrsalve.
Er brauchte nicht einmal mehr einen Entschluss zu fassen, es war zu spät.
Was auch bedeutete, dass er nichts mehr zu verlieren hatte.
Harry trat die Tür des Kühlschranks noch einmal auf, sprang heraus, stellte sich hinter den Kühlschrank, kippte ihn wieder in aufrechte Position und sah über den Rand, dass Truls langsam nach unten rutschte, wobei sein Blick unweigerlich auch auf den Fernseher fiel. 00:00:12. Zwölf Sekunden.
»Sorry, Berntsen«, sagte Harry.
Er packte Truls um die Brust, zog ihn wieder hoch und drückte sich rückwärts in den stehenden Kühlschrank. Er schob seine Hand an Truls vorbei zur Tür, zog sie halb zu und begann zu wippen. Der schwere Kühlschrankmotor war so hoch platziert, dass der Schwerpunkt des Schrankes weit oben lag, was ihm hoffentlich half.
Der Kühlschrank schwankte nach hinten und verharrte auf dem Balancepunkt.
In die Richtung durften sie nicht fallen!
Harry versuchte gegenzusteuern und auch Truls nach vorne gegen die Tür zu drücken.
Dann gab der Kühlschrank nach und kippte in die gewünschte Richtung.
Harry erhaschte einen letzten Blick auf den Fernseher, als der Kühlschrank Übergewicht bekam und auf die Tür fiel.
Es verschlug ihm den Atem, als sie auf den Boden knallten, und er spürte die Panik, als der Sauerstoff aus seinem Körper gepresst wurde. Aber es war dunkel, ganz dunkel. Das Gewicht des Motors und des Kühlschranks hatten bewirkt, was er erhofft hatte. Die Tür war geschlossen.
Da explodierte die Bombe.
Harrys Hirn implodierte, schaltete sich aus.
Harry blinzelte ins Dunkel.
Er musste ein paar Sekunden lang weg gewesen sein.
In seinen Ohren piepste es frenetisch, und es fühlte sich an, als hätte ihm jemand Säure ins Gesicht geschüttet. Aber er war am Leben.
Noch.
Er brauchte Luft. Harry presste die Hände zwischen sich und Truls, der unter ihm auf der Kühlschranktür lag, und stemmte den Rücken mit aller Kraft gegen die Rückwand. Der Kühlschrank drehte sich über die Türscharniere auf die Seite.
Harry schob Berntsen nach draußen, rollte sich heraus und stand auf.
Der Raum sah aus wie dystopisches Brachland aus einem Science-Fiction, eine graue Staub- und Rauchhölle ohne einen einzigen identifizierbaren Gegenstand. Nicht einmal das, was einmal ein Kühlschrank gewesen war, sah noch aus wie ein Kühlschrank. Die Metalltür zum Flur war aus den Angeln gerissen.
Harry ließ Berntsen liegen. Er hoffte, dass der verfluchte Kerl endlich tot war, und taumelte die Treppe hinunter nach draußen.
Als er unten auf der Hausmanns gate stand, starrte er auf den Asphalt. Er sah das Blaulicht der Polizeiwagen, hörte aber nur ein Pfeifen in seinen Ohren. Es klang wie ein Drucker ohne Papier, ein Alarm, den endlich jemand abschalten sollte.
Und während er dort stand und die lautlosen Polizeiwagen anstarrte, dachte er das Gleiche, das er gedacht hatte, als er auf die Bahn in Manglerud gelauscht hatte. Dass er nichts hörte, dass er nicht hörte, was er hören sollte. Weil er nicht nachgedacht hatte.
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