Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
Türöffnung zu stehen. Die Federn zogen die Tür zurück, und sie fiel mit einem lauten Knall ins Schloss.
Dann war es still. Bis auf ein leises Ticken.
Harry blinzelte überrascht.
Abgesehen von einem kleinen Reisefernseher im Stand-by, auf dessen schwarzem Bildschirm weiße Ziffern die falsche Uhrzeit anzeigten, war hier drinnen nichts verändert worden. Es war noch immer ein heruntergekommenes Drogennest mit Matratzen auf dem Boden und Müll überall. Ein Stück Müll saß auf einem Stuhl, in halbwegs sitzender Position.
Truls Berntsen.
Er glaubte jedenfalls, dass es Truls Berntsen war.
Truls Berntsen gewesen war.
Kapitel 45
D er Stuhl stand mitten im Raum unter einer zerfetzten Reispapierlampe.
Harry dachte, dass sowohl die Lampe als auch der Stuhl und der Fernseher, aus dem das Ticken eines sterbenden Elektrogeräts kam, Siebziger-Jahre-Produkte sein mussten.
Wie auch das, was auf dem Stuhl hockte.
Dabei war schwer zu sagen, ob das wirklich Truls Berntsen war, geboren Mitte der Siebziger, gestorben heute, der da mit Klebeband an den Stuhl gefesselt worden war. Dem Mann fehlte nämlich das Gesicht. Wo früher Nase und Mund gewesen waren, klaffte jetzt eine Art Hackfleischkrater aus relativ frischem hellrotem Blut, schwarzem, bereits trockenem Schorf und weißen Knochensplittern. Der Brei wäre sicher langsam der Schwerkraft gefolgt, wäre nicht Klarsichtfolie stramm um den Kopf gewickelt worden. Ein Knochensplitter ragte durch das Plastik. Sonderangebot, dachte Harry. Wie das frisch eingeschweißte Hackfleisch aus dem Supermarkt.
Harry zwang sich wegzusehen und versuchte, die Luft anzuhalten, während er den Rücken an die Wand drückte. Mit halb angehobener Waffe scannte er den Raum von links nach rechts.
Starrte in die Küchenecke. Der alte Kühlschrank und die Arbeitsplatte waren noch immer da, aber dahinter im Halbdunkel konnte sich jemand verstecken.
Kein Laut, keine Bewegung.
Harry wartete. Dachte nach. Wenn es eine Falle war, in die ihn jemand gelockt hatte, müsste er bereits tot sein.
Er holte tief Luft. Hatte den Vorteil, dass er schon einmal hier gewesen war und wusste, dass es außer Küche und Toilette keine Versteckmöglichkeiten gab. Dumm war nur, dass er einem der beiden Räume den Rücken zudrehen musste, wollte er einen Blick in den anderen werfen.
Er fasste einen Entschluss, huschte zu dem Durchgang in die Küche, sah kurz um die Ecke, zog den Kopf ebenso rasch wieder zurück und ließ das Hirn die Informationen verarbeiten, die es bekommen hatte. Herd, Pizzakartons und Kühlschrank. Sonst nichts.
Er ging zur Toilette. Es gab keine Tür mehr, und das Licht war aus. Er stellte sich neben die Türöffnung und drückte den Lichtschalter. Zählte bis sieben. Kopf vor und wieder zurück. Leer.
Mit dem Rücken an der Wand ließ er sich nach unten sinken und spürte erst jetzt, wie wild sein Herz gegen die Rippen hämmerte.
Ein paar Sekunden blieb er so sitzen. Dann rappelte er sich auf und ging zu dem Toten auf dem Stuhl. Hockte sich vor ihn hin und starrte auf die rote Masse hinter dem Plastik. Kein Gesicht, aber die vorstehende Stirn, der Unterbiss und die billige Frisur ließen keinen Zweifel offen. Das war Truls Berntsen.
Harrys Hirn arbeitete bereits an der Erkenntnis, dass es sich geirrt hatte. Truls Berntsen war nicht der Polizeischlächter.
Gleich darauf folgte der nächste Gedanke: jedenfalls nicht der einzige.
Konnte es sein, dass das, was er hier vor sich hatte, der Mord an einem Mitschuldigen war? Hatte hier ein Mörder seine Spuren beseitigt? Hatte Truls »Beavis« Berntsen mit einer Seele zusammengearbeitet, die ebenso krank war wie er selbst und das hier getan hatte? Hatte Valentin mit Berechnung im Blickfeld einer Überwachungskamera im Ullevål-Stadion gesessen, während Berntsen den Mord im Maridalen verübt hatte? Aber wie hatten sie die Morde untereinander aufgeteilt, wenn dem tatsächlich so war? Für welche Morde hatte sich dann Berntsen ein Alibi verschafft?
Harry richtete sich auf und sah sich um. Und warum war er hierhergelockt worden? Die Leiche wäre auch so bald entdeckt worden. Eine ganze Reihe von Dingen passte hier nicht zusammen. Truls Berntsen war zu keinem Zeitpunkt an den Ermittlungen zum Mordfall Gusto Hanssen beteiligt gewesen. Das war eine kleine Ermittlergruppe gewesen, bestehend aus Beate, ein paar weiteren Kriminaltechnikern und einigen wenigen taktischen Ermittlern, die nicht viel Arbeit gehabt hatten, da Oleg schon Minuten nach der
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