Koma
Feuchtigkeit wie ein warmer Umschlag. Nun erst sah sie die Patienten, und sie blieb wie angewurzelt stehen, wollte ihren Augen nicht trauen. In dem Saal befanden sich mehr als hundert Menschen, und alle schienen frei in der Luft zu schweben, etwa anderthalb Meter über dem Boden. Sie waren vollständig nackt. Bei genauem Hinsehen entdeckte Susan die Drähte. Sie durchbohrten die Röhrenknochen der Patienten an vielerlei Stellen und waren straff zwischen Metallrahmen gespannt. Andere Drähte, die von der Decke kamen, hielten die Köpfe der Patienten und waren in die Schädeldecke geschraubt. Susan hatte den Eindruck, als hätte sie eine Ansammlung grotesker Marionetten im Schlaf überrascht. Bewegungslos hingen die menschlichen Puppen in horizontaler Lage an ihren Drähten.
Neben ihr ließ sich Michelle vernehmen. »Wie Sie sehen können, werden die Patienten von Spanndrähten in Position gehalten. Manche Besucher reagieren emotionsgeladen auf einen derartigen Anblick, aber dies hat sich als die beste Methode zur Langzeitversorgung erwiesen. Die Haut bleibt maximal geschont, bei minimalem Pflegeaufwand. Es handelt sich um eine Weiterentwicklung orthopädischer Methoden, wo Drähte durch Knochen gezogen werden, um Veränderungen zu verhindern. Auch in der Behandlung von Verbrennungen hat sich der Vorteil gezeigt, der darin besteht, daß die Haut nirgends aufliegt. Wir haben es hier mit einer Adaption dieser Erkenntnisse für die Pflege komatöser Patienten zu tun.«
»Das sieht ziemlich grauslig aus.« Susan fühlte sich an die baumelnden Leichen in der Gefrierkammer erinnert. »Warum ist das Licht so komisch?«
»Ach ja, wir sollten Schutzbrillen anlegen, wenn wir länger hier drinbleiben.« Michelle nahm zwei Brillen von einem Tisch.
»Das hier ist ein niedriggradiges ultraviolettes Licht, optimal zur Eindämmung der Bakterien und zur Erhaltung des Hautgewebes.« Michelle reichte Susan eine Schutzbrille.
»Die Temperatur wird auf 36,5 Grad Celsius gehalten, plus oder minus 0,02 Grad. Die Luftfeuchtigkeit beträgt konstant zweiundachtzig Prozent, mit einer Toleranzschwelle von nicht mehr als einem Prozent nach oben und unten. Das hält den Wärmeverlust in minimalen Grenzen und reduziert damit den Kalorienbedarf der Patienten. Außerdem verringert die Feuchtigkeit die Gefahr von Infektionen der Luftwege – wie Sie wissen, ein kritisches Problem bei komatösen Patienten.«
Susan stand wie unter einem Bann. Fast auf Zehenspitzen trat sie näher an einen der schwebenden Patienten heran. Eine Vielzahl von Drähten durchbohrte die verschiedenen Röhrenknochen. Die Drähte führten waagerecht zu einem den Patienten umgebenden Aluminiumrahmen und schließlich nach oben zu einer kompliziert wirkenden Konstruktion, einer Art umgedrehten Wagen, dessen Räder in Schienen an der Decke liefen. Susan sah sich die Decke genauer an und stellte fest, daß sie aus einem Labyrinth von Schienen für diese kleinen Patientenwagen bestand. Aus den Wagenkästen kamen auch alle Infusionsschläuche, Saugröhren und Monitor-Leitungen für den jeweiligen Patienten. Völlig konsterniert wandte Susan sich an Michelle. »Gibt es denn hier überhaupt keine Schwestern?«
»Doch, mich zum Beispiel, und außer mir haben noch zwei andere Schwestern Dienst, dazu ein Doktor. Das ist doch eine recht vernünftige Relation zu gegenwärtig hunderteinunddreißig Intensivpflege-Patienten, finden Sie nicht? Sehen Sie, hier ist alles automatisiert. Gewicht des Patienten, Blutgase, Flüssigkeitshaushalt, Blutdruck, Körpertemperatur, insgesamt eine enorme Anzahl einzelner Werte, die der Computer ständig unter Beobachtung hat. Er prüft sie, vergleicht sie mit den Normalwerten und löst vor allem auch Mechanismen aus, mit denen alle Abweichungen oder Abnormitäten korrigiert werden. Dieses System ist der konventionellen Pflege auch in sachlicher Hinsicht weit überlegen. Ein Arzt kann immer nur einzelne Werte prüfen und nacheinander korrigieren, und zwar nur bezogen auf den unmittelbaren Zeitpunkt der Untersuchung. Der Computer dagegen prüft und korrigiert alle Werte auf einmal und über einen beliebigen Zeitraum hinweg. Außerdem, und das ist vielleicht am wichtigsten, kann der Computer alle Werte zu jeder Zeit zueinander in Beziehung setzen. Er wirkt insofern fast wie die körpereigenen Regulationsmechanismen.«
»Moderne Medizin, bis zum Exzeß getrieben«, warf Susan impulsiv ein. »Es ist unglaublich, ganz einfach unglaublich. Wie in einem
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