Komm, spiel mit mir: Thriller (German Edition)
auch, sie hatte die Tränen nicht länger zurückhalten können. Damals hatte sie die Nächte durchgeweint, bis ihr am Morgen alles weh tat. Es würde niemals wieder gut werden.
Schließ damit ab. Schließ damit ab, Stephanie.
Sie kann nicht über Minna sprechen, weil die Verletzung zu groß ist und die Liebe auch. Ja, sie liebt sie. Sie liebt Minnas aufrechten Gang, ihre klappernden Absätze, das stolz vorgereckte Kinn, die elegante Haltung, ihren Stil und ihren Charme, ihre Chuzpe. Und weil Minna ihre Mutter ist. Weil sie als kleines Mädchen genauso wie sie sein wollte.
Sie ist sechs Jahre alt. Sie steht auf einem Stuhl. Die blaue Plastikbadewanne steht auf dem Küchentisch, und Minna badet Liam, sie hält sein Köpfchen sicher mit einer Hand, während die andere Wasser auf seinen winzig kleinen Körper schöpft. Er sieht zu ihr hoch und strampelt, manchmal lächelt er auch, breit und zahnlos. Minna hebt ihn mühelos aus dem Wasser, legt ihn auf ein weiches, weißes Handtuch und rubbelt ihn trocken. Sie hilft Stephanie mit der Puderdose, denn Liam einzupudern ist Stephanies Aufgabe. Dann zieht sie ihm geschickt das frisch gewaschene weiße Baumwollhemdchen an, das gestrickte Oberteil mit dem blauen Samtbändchen am Hals, die Windel, den weichen Strampler, das Strickjäckchen. Dann hält sie ihn in die Höhe, er strampelt und lächelt, und Stephanie weiß, ihre Mutter ist der klügste Mensch der Welt, denn sie weiß immer, was sie tut. Sie weiß, wie man ein Baby anzieht und versorgt. Sie weiß, wie man ein Baby füttert, wie man Auto fährt und Kuchen backt. Ihre Mutter weiß alles.
Mittwochnachmittag. Stephanie trägt das Gewehr, weil Dan die komplette Ausrüstung auf dem Rücken hat. Sie wandern über den Bergrücken ins Nachbartal hinüber, wo die Hütte steht. Sie kraxeln den Hang hinauf, arbeiten sich durch zerzauste Sträucher und strohgelbes Büschelgras und Dornbüsche. Es wird kühl und beginnt zu dämmern. Je näher sie dem Gipfel kommen, desto dichter wird der Nebel.
Dann geht es wieder abwärts, ins Tal hinunter. Sie fühlt Dans Hand an ihrem Arm. Auf einer schräg vor ihnen gelegenen Lichtung stehen zwei Hirsche. Dan bedeutet ihr, ihm zu folgen, sie gehen langsam und ruhig weiter, immer bemüht, kein Geräusch zu machen. Die Hirsche rühren sich nicht, das Fell auf ihrem Rücken schimmert in der Abendsonne, während sie mit gesenktem Kopf grasen.
Sie sind in Schussweite, kaum dreihundert Meter entfernt. Die Tiere sind ruhig, haben nichts gemerkt. Noch nicht. Stephanie will Dan das Gewehr in die Hand drücken, aber er schüttelt den Kopf und zeigt auf seinen Rucksack. Sie hat verstanden; wenn er versucht, ihn abzunehmen, wird das Geräusch die Tiere verscheuchen.
Ein einfacher Schuss, das weiß sie. Sie weiß, dass sie es kann. Aber das Gras ist zu hoch; legt sie sich flach auf den Bauch, um das Gewehr abzustützen, wird sie die Tiere nicht mehr sehen. Deswegen geht sie in die Knie. Ihr Herz klopft laut, als sie das Gewehr lädt, an die Schulter hebt und durchs Zielfernrohr schaut.
Der vordere. Den kann sie treffen.
Und dann ist sie wie erstarrt. Sie bekommt Angst, hört ihren eigenen rasselnden Atem, kann sich nicht mehr bewegen. Hilflos muss sie mit ansehen, wie die Hirsche den Kopf heben und davongaloppieren.
Dan kommt näher und kniet sich neben sie.
»Ich … ich konnte es nicht.« Sie weint beinahe, vor Enttäuschung und Erleichterung.
»Ist schon gut«, sagt er. »Tut mir leid. Ich hätte auf Sie hören sollen.«
»Ich verabscheue Waffen. Ich will nicht sehen, wie ein Tier stirbt. Ich könnte niemals …«
»Hören Sie, es ist gut.«
Er nimmt ihr das Gewehr ab, öffnet die Verschlusskammer und entfernt die Patrone. »Wir sind gleich da. Können Sie noch? Wenn Sie möchten, legen wir eine Pause ein.«
»Nein, wir können weiter.«
Sie befinden sich oberhalb eines langgezogenen, von hohem Gras bewachsenen Tals. Sie kommen an dichtem Gebüsch und hohen Südseemyrtesträuchern vorbei und erreichen schließlich einen Bachlauf, und in der Ferne entdeckt Stephanie die Hütte. Unten im Tal ist es wärmer, und sie fühlt den Schweiß auf ihrem Gesicht. Der Schweiß rinnt ihr über den Rücken, sie sehnt sich danach, sich die Wanderstiefel von den heißen Füßen zu reißen und durchs kalte Wasser zu waten. Sie sieht, dass der Bach sich am Ende des Tals zu einem Fluss verbreitert. Tief genug, um darin zu baden und zu schwimmen. Sie erreichen die Hütte, und Dan stößt die Tür auf.
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