Komm, spiel mit mir: Thriller (German Edition)
ein Mädchen war, erschien es ihr passend, denn auch sie lebte keusch und asketisch. Sie besuchte Vorlesungen und Seminare, und sie lernte, lernte, lernte. Abends stand sie von halb sechs bis halb elf bei McDonald’s, danach schlief sie sieben Stunden lang, um sich am nächsten Morgen um sechs vom schrillen Weckerklingeln wecken zu lassen. Meistens schaffte sie es, ein, zwei Stunden zu lernen, bevor die Vorlesungen begannen. Ein Tag war wie der andere.
Sie bemühte sich sehr um ihre guten Noten. Es war nicht einfach, all diese Stunden des Lesens und Auswendiglernens; mühsam erkämpfte sie sich das Verständnis von Theorien, die die anderen Studenten scheinbar mühelos und instinktiv erfassten. Anatomieunterricht im Labor, Sektion. Daran konnte sie sich nie gewöhnen, es fiel ihr immer schwer, den Äthergeruch zu ertragen und in menschliches Fleisch zu schneiden.
Inzwischen macht es ihr Spaß, ihr Mortech-20-Millimeter-Messer zum Gemüseschnippeln zu benutzen. Sie schärft es regelmäßig und nimmt es überallhin mit wie einen Talisman.
Sie absolvierte das Medizinstudium und schlug die Fachrichtung Psychiatrie ein. Sie machte das zweijährige Praktikum im städtischen Krankenhaus. Es war ein Alptraum, und zum ersten Mal zweifelte sie an ihrer Entscheidung. Aber dann bot die Privatklinik ihr eine Stelle an. Sie hat immer noch nicht ausgelernt, hat noch ein ganzes Jahr vor sich, spekuliert aber darauf, übernommen zu werden. Sie gibt alles, um sich zu beweisen, erscheint noch vor acht im Büro und geht nie vor sechs Uhr, wobei die Stunden nur so verfliegen; obwohl es anstrengend ist, liebt sie ihre Arbeit. Einige Patienten bleiben monatelang, ohne dass eine Veränderung oder gar Besserung eintritt; dennoch kann sie sich nichts Schöneres vorstellen, als hier zu bleiben und ihre Karriere voranzutreiben. Sie ist weit, weit entfernt von Wanaka. Weit, weit entfernt davon, das arme Ding zu sein.
Sie fährt nicht mehr dorthin. Als Studentin hatte sie jede Menge Ausreden parat. Sie hatte ihren Job, in den Ferien arbeitete sie sogar Vollzeit bei McDonald’s. Und je länger sie weg war, desto schwieriger wurde die Vorstellung, nach Hause zu fahren. Sie wäre wieder das arme Ding und müsste über Gemma nachdenken. Wie alt Gemma inzwischen wäre, wie sie in einer Schuluniform aussähe, in dem langen Rock mit Schottenmuster, den Stephanie früher auch getragen hatte. Ob sie sich für Klamotten und Jungs interessieren würde, ob sie Stephanie um Rat gefragt hätte. Sie wollte nicht zurückfahren und am Ufer des riesigen, glitzernden Sees stehen und sich fragen, was dort vor so vielen Jahren geschehen war, wollte sich nicht fragen, was passiert wäre, wenn … Wenn, wenn, wenn, wenn, wenn.
Den Thymian zu riechen, die Sonne auf ihren Schultern und im Gesicht zu spüren, die zitronig-frische Luft am frühen Morgen, kurz bevor der Herbstfrost kam. Der Schnee, der von den Gipfeln abwärts wandert. Sie liebt es, sie hasst es.
So zu leben wie sie es tut, in einer Zweizimmerwohnung in einem Wohnblock, wäre nicht für jeden das Richtige. Dabei ist es gar nicht so übel, das Wohnzimmer bekommt etwas von der Nachmittagssonne ab, so dass es einigermaßen warm ist, wenn sie nach Hause kommt. Sie besitzt nicht viel, nur das Allernotwendigste: ein Sofa, ein paar Stühle, einen Tisch, ein Bett und eine Kommode. Die Wohnung sieht spartanisch aus, denn Stephanie lebt immer noch das Leben einer Priesteramtsanwärterin. In ihrer Garderobe finden sich einige wenige Kledungsstücke für die Freizeit, das meiste jedoch ist Arbeitskleidung. Zwei schwarze Blazer, drei schwarze Röcke, ein grauer und ein karierter Rock, zwei weiße Blusen. Manchmal muss sie an Minnas vollgestopften Kleiderschrank denken, an die vielen Farben und Muster, an die Keramik, die überall im Haus in den Regalen herumstand. An das gelbe Porzellan mit dem roten Blumenmuster in der Küche, an die vielen Bücher, die Läufer und Kissen und Gemälde und an die aufgehängten Fotos. So etwas will sie nicht, sie erträgt keine Unordnung in ihrem Leben.
Für die meisten Leute wäre es auch nicht das Richtige, ohne Freunde zu leben und keine Freizeit zu haben. Nicht, dass Stephanie eine Eigenbrötlerin wäre – Jonny und Liam leben inzwischen in der Nähe, und auch Wanda trifft sie ab und zu. Wanda ist eine Psychiatriepflegerin, die Stephanie bei ihrem ersten Praktikum kennengelernt hat. Wanda hat ein lautes, herzliches Lachen. In gewisser Hinsicht hat sie Stephanie damals das
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