Komm, spiel mit mir: Thriller (German Edition)
an das kleine, verlorene Kind, die verlorene Schwester. Wellen des Schmerzes, ein drückender Klumpen im Brustkorb, hart und schwer wie ein Stein, Bilder, die in ihrem Kopf aufflackern. Minnas gequältes Gesicht im Fernsehen, Mary-Anne und ihre Mutter, wie sie mit einem Korb voller Muffins vor der Tür stehen. Das Wohnzimmer der Peters. Die Streifenwagen. Der Helikopter. Die Boote. Die grimmigen Mienen der Freiwilligen. Eine endlose Diashow, die sie nicht unterbrechen, von der sie den Blick nicht lösen kann.
Ich fühle mich wie eine Gefangene.
Sie hat am eigenen Leib erfahren, wie unerwartet so etwas passieren kann, von niemandem vorhergesehen. An einem wunderschönen Tag dröhnt ein Flugzeug über den Himmel und landet auf einem See, und plötzlich verschwindet der Mensch, den man am meisten liebt auf der Welt. Es trifft einen aus heiterem Himmel, reißt einem den Boden unter den Füßen weg, und da erkennt man, wie willkürlich das Leben spielt, wie chaotisch es ist. Man muss vorsichtig sein. Man darf kein Risiko eingehen. Man muss auf der Hut sein. Besser, man lässt niemanden mehr an sich heran, denn ein weiterer Verlust wäre unerträglich. Beths Schmerzensschrei ist ihr eigener. Sie ist wie Beth in sich selbst gefangen.
Hör auf. Hör sofort damit auf.
Denk nach. Sei vernünftig. Was ist zu tun? In der Ausbildung hat sie gelernt, dass man persönliche Erlebnisse eines Patienten, die den eigenen zu ähnlich sind, ausklammern und auf Distanz gehen muss, um die Zusammenarbeit nicht zu gefährden.
Wie kurz stand sie am Freitag davor, genau das zu tun?
Beth, auch ich habe meine Schwester verloren. Auch wir glauben, dass sie ertrunken ist.
Die Worte stiegen in ihrer Kehle auf, drängten in den Raum. Du liebe Güte, um ein Haar hätte sie gegen die wichtigste aller Regeln verstoßen, dabei ist sie bei Beth ohnehin schon zu weit gegangen. Sie hat sich zu tief hineinziehen lassen und falsche Entscheidungen getroffen. Ihre Vorgesetzten haben ihr vertraut, weil sie bislang alles richtig gemacht hat. Man hat ihr mehr Befugnisse eingeräumt, als es üblich ist, aber jetzt hat sie alles vermasselt. Für sich, für die Klinik und, was am schwersten wiegt, für die Patientin.
Sie sollte schleunigst zu ihrer Ausbilderin gehen und erklären, dass sie Beth zu nah gekommen und nicht mehr unvoreingenommen ist. Schon vor Wochen hätte sie das tun sollen. Sie sollte darum bitten, von dieser Aufgabe entbunden zu werden. Sie sollte sich selbst in Therapie begeben. Lange genug hat sie verdrängt, was ihr vor so vielen Jahren zugestoßen ist; sie muss es aufarbeiten, denn sie darf nicht riskieren, noch einmal in diese Lage zu kommen.
Aber was ist mit Beth? Würde sie sie nicht im entscheidenden Moment im Stich lassen? Beth vertraut ihr. Sie hat sich ihr geöffnet. Sie darf Beth nicht fallenlassen, denn möglicherweise würde Beth das nicht verkraften.
Und du würdest Beth vermissen.
Aber es geht hier nicht um sie! Sie spielt hier keine Rolle, sie muss einzig und allein an Beth denken. Stephanie nimmt ihr Kissen und schlägt es platt. Sie strampelt die Decke beiseite; ihr ist heiß, viel zu heiß.
Nun weiß sie über Gracie Bescheid. Nun, da sie die Tatsachen kennt, werden keine großen Überraschungen mehr kommen. Sie wird sich im Griff haben; sie wird vorbereitet und auf der Hut sein. Sie wird es schaffen. Sie kann das. Sie tut es für ihre Patientin. Ihre Patientin braucht Kontinuität. Ein Therapeutenwechsel zu diesem Zeitpunkt würde sie aus der Bahn werfen. Stephanie muss durchhalten. Sie darf die Nerven nicht verlieren, sie muss sich im Griff haben.
Man hat uns gesagt, sie sei ins Meer gelaufen.
»Beth, kommen Sie rein. Wie geht es Ihnen?«
»Ich habe mit Peter gesprochen.«
»Wollen wir über Peter reden?«
»Bei seinen Besuchen habe ich immer geahnt, dass er auf eine Entschuldigung wartet. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er nur so getan hat, als wolle er mich zu Hause nicht haben, damit ich mich bei ihm entschuldige. Dann kann er mir verzeihen, und wir können weitermachen wie vorher.«
Sie sieht Stephanie fragend an.
»Klingt so, als würden Sie sich regelmäßig bei Peter entschuldigen.«
Beth grinst. »Ja, da könnten Sie recht haben. Es war immer so, dass es ihm furchtbar schlechtging, wenn ich mal was getan habe, das ihm nicht passte. Er hat immer das traurige Opfer gespielt. Ich habe dann ein schlechtes Gewissen bekommen und mich entschuldigt. Nun, diesmal habe ich es direkt angesprochen, ich habe
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