Komm, spiel mit mir: Thriller (German Edition)
Familie, ich kann es nicht fassen.
Im Laufe der zweiten Woche rutscht die Geschichte auf die hinteren Seiten. Anscheinend findet die Schlafwandelhypothese immer mehr Anhänger, denn am zweiten Freitag nach Gracies Verschwinden bringt die Zeitung einen ausführlichen Artikel über ein australisches Kind, das im Schlaf vom Balkon im zweiten Stock stürzte; dazu Berichte aus aller Welt von Kindern, die im Schlaf Treppen hinuntergefallen oder Leitern hinaufgeklettert sind oder bei merkwürdigen oder gefährlichen Aktionen ertappt wurden. Am darauffolgenden Montag erscheint ein Interview mit einer Kinderärztin aus Auckland, die über Schlafstörungen bei Kleinkindern spricht. Am Mittwoch, zwei Wochen nach Gracies Verschwinden, wird die Suche abgebrochen.
Am Donnerstag schafft die Geschichte es noch einmal auf die Titelseite. Ein großes Foto, das fast die ganze Seite einnimmt, zeigt die freiwilligen Helfer, als das offizielle Ende der Suche bekanntgegeben wird. Die Leute wirken entmutigt. Ein paar der Befragten geben an, auf eigene Faust weitersuchen zu wollen. Sie sagen, das kleine Mädchen müsse gefunden und nach Hause gebracht werden, auch wenn es inzwischen tot sein sollte. Die Eltern müssten erfahren, was passiert sei, um trauern zu können.
Zuerst weiß sie nicht, woher das Geschrei kommt, sie läuft durchs Wohnzimmer, durch die Küche, die Schlafzimmer, sie öffnet die Badezimmertür und sieht sie. Minna kauert am Boden. Zusammengekrümmt.
Die wollen nicht weitersuchen. Wo ist sie wo ist meine Kleine wo ist sie wo ist sie? O Gott, o Gott, bitte bring sie mir zurück.
Sie spürt heiße Tränen aufsteigen, als sie die Fotos betrachtet. Alles verschwimmt vor ihren Augen. Sie beugt sich tiefer hinunter. Da, ganz hinten. Teilweise von der Frau im Bildvordergrund verdeckt. Er trägt einen Parka, die Kapuze ist über seinen Kopf gezogen und verdeckt sein Gesicht. Aber sie kann sein blondes Haar erkennen, die Gesichtsform, die Körpergröße. Er ist größer als die Umstehenden.
Ist er das?
Vielleicht hatte er eine Affäre mit Minna. Vielleicht hatte er auch mit Ellie Clark etwas angefangen. Er war da, als die Mädchen verschwanden, und falls er der Mann auf dem Foto ist, hat er sich beide Male an der Suche beteiligt.
Warum hätte er das tun sollen? Wer würde ein Kind verschleppen und dann vorgeben, bei der Suche zu helfen?
Dabei lässt sich diese Frage beantworten. Sehr gut sogar. Zunächst einmal verschaffte es ihm ein Alibi. Wenn er sich unter die Freiwilligen mischte, war es unwahrscheinlicher, dass irgendjemand mit dem Finger auf ihn zeigte. Es gibt noch weitere Erklärungen, über die Stephanie lieber nicht nachdenken möchte. Die Lust daran, andere leiden zu sehen. Das berauschende Gefühl der Macht, Leid zugefügt zu haben.
Gracies kleines Gesicht, der zarte Körper.
Stephanie klappt den Ordner zu und stellt ihn ins Regal zurück. Sie muss aufhören zu weinen, zu zittern, sie muss durch den Flur laufen, an Karen vorbei und auf die Straße.
Sie betritt ein Café, bestellt einen Kaffee und setzt sich ans Fenster. Inzwischen bekommt sie wieder Luft. Die Sonne ist herausgekommen, überall sind Leute unterwegs, Mütter schieben Kinderwägen herum, vor den Geschäften stehen bepflanzte Blumenkübel. Im Café ist es warm, es duftet nach Zimt. In dieser normalen, alltäglichen Umgebung wirken ihre Verdächtigungen absurd. Was, wenn sie sich irrt? Wenn er es gar nicht war? Wenn das Ganze nur ein seltsamer Zufall ist?
Am Nachmittag fährt sie zu Beths Elternhaus. Die Adresse steht auf einem Zettel, der neben ihr auf dem Beifahrersitz liegt, sie hat Beths Stimme im Kopf auf der Hauptstraße fünf Kilometer geradeaus. Das Haus steht an der Hauptstraße, ein Stück zurückgesetzt, grau mit heller Verblendung, direkt daneben steht das Gästehaus, Sie können es nicht verfehlen, im Garten steht ein Schild.
Da ist es. Andy’s. Sie biegt in die Einfahrt, stellt das Auto auf dem Parkplatz ab. Alles ist so, wie sie es sich vorgestellt hat, Haus und Nebengebäude sind von dichtem Strauchwerk umgeben, dahinter kann man das Meer sehen.
Beth hatte gesagt, ihr Vater sei nachmittags meistens daheim. Stephanie entdeckt ihn auf der Terrasse des Gästehauses, wo er auf eine Ranke einhackt, die an der Hauswand hinauf und bis über die Dachrinne geklettert ist. Als er sie sieht, richtet er sich auf und lässt die Heckenschere sinken.
»Hallo«, sagt sie. »Vielleicht erinnern Sie sich an mich? Ich bin Stephanie Anderson.
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