Komm zurück, mein dunkler Bruder
erwiderte ich. »Es sei denn, wir holen sie.« Das war offensichtlich nicht die beruhigende Antwort, auf die sie gehofft hatte. Sie stopfte sich eine Faust in den Mund und machte den Eindruck, als versuchte sie angestrengt, nicht zu kreischen. »Steig ein, Rita«, sagte ich. Ich öffnete ihr die Tür, doch sie starrte mich nur über ihre halbverdauten Knöchel an. »Komm schon«, drängte ich, und endlich stieg sie ein. Ich glitt hinter das Steuer, ließ den Motor an und setzte aus der Einfahrt.
»Du hast gesagt«, stammelte Rita, und ich war erleichtert, dass sie endlich die Faust aus dem Mund genommen hatte, »du hast gesagt, du weißt, wo sie sind.«
»Das stimmt«, bestätigte ich, während ich ohne mich umzusehen auf die U. S. 1 abbog und durch den schwächer werdenden Verkehr beschleunigte.
»Wo sind sie?«, fragte sie.
»Ich weiß, wer sie hat«, korrigierte ich mich. »Deborah hilft uns herauszufinden, wohin sie gefahren sind.«
»O Gott, Dexter«, stöhnte Rita und begann leise zu weinen. Selbst wenn ich nicht gefahren wäre, hätte ich nicht gewusst, was ich tun oder sagen sollte, deshalb konzentrierte ich mich einfach darauf, uns lebend zum Polizeihauptquartier zu chauffieren.
In einem sehr behaglichen Zimmer klingelte ein Telefon. Es gab weder ein würdeloses Zwitschern von sich noch eine Salsa-Melodie oder ein Fragment Beethovens, wie moderne Handys das zu tun pflegen. Stattdessen schnurrte es mit diesem altmodischen Klang, so wie Telefone klingeln sollen.
Und dieser konservative Klang passte ausgezeichnet zu dem Raum, der auf beruhigende Weise elegant war. Darin befanden sich ein Ledersofa und zwei passende Sessel, alle gerade genug abgewetzt, um die Atmosphäre eines Lieblingspaars Schuhe zu verströmen. Das Telefon stand auf einem dunklen Wandtisch aus Mahagoni am anderen Ende des Zimmers neben einer Bar aus demselben Holz.
Insgesamt vermittelte der Raum die entspannte und zeitlose Atmosphäre eines sehr alten und gediegenen Herrenclubs, abgesehen von einem Detail: Die Wandfläche zwischen Bar und Sofa wurde von einer riesigen verglasten Holzvitrine eingenommen, einem Mittelding zwischen Trophäen- und Bücherschrank. Doch anstelle der Regale war die Vitrine mit Hunderten filzgepolsterten Fächer ausgestattet. Mehr als die Hälfte davon bargen die lebensgroße Keramik eines Stierschädels.
Ein alter Mann betrat den Raum, ohne Hast, jedoch ebenfalls ohne das vorsichtige Zaudern gebrechlichen Alters. Sein Schritt verriet ein Selbstvertrauen, das gewöhnlich jungen Männern vorbehalten ist. Sein Haar war voll und weiß, sein Gesicht glatt, wie vom Wüstenwind geschliffen. Er schritt zum Telefon, als wäre er sicher, dass der Anrufer nicht auflegen würde, bis er abgenommen hatte, und anscheinend hatte er recht, denn es klingelte noch immer, als er den Hörer hob.
»Ja«, meldete er sich, und auch seine Stimme klang wesentlich jünger, als sie hätte sein dürfen. Während er lauschte, spielte er mit einem Dolch, der auf dem Tisch neben dem Telefon lag. Es war antike Bronze. Den Knauf bildete ein Stierschädel, die Augen zwei große Rubine, und die Klinge schmückten Goldlettern, die wie
MLK
aussahen. Wie der alte Mann war der Dolch wesentlich älter, als er aussah, und weitaus schärfer. Müßig ließ er den Daumen über die Schneide gleiten, während er lauschte, und eine dünne Blutlinie erschien. Es schien ihn nicht zu stören. Er legte den Dolch wieder hin.
»Gut«, sagte er. »Bringt sie her.« Wieder lauschte er einen Moment, leckte dabei abwesend das Blut von seinem Finger. »Nein«, erwiderte er, während er sich mit der Zunge über die Unterlippe fuhr, »die Übrigen versammeln sich schon. Der Sturm hat keine Auswirkung auf Moloch oder sein Volk. In dreitausend Jahren haben wir weit Schlimmeres erlebt, und es gibt uns noch immer.«
Erneut hörte er einen Moment zu, bis er mit einem Hauch Ungeduld in der Stimme unterbrach: »Nein«, sagte er. »Keine Verzögerungen. Der Beschatter soll ihn zu mir bringen. Die Zeit ist gekommen.«
Der alte Mann legte auf und blieb einen Moment stehen. Dann nahm er wieder den Dolch, und sein altes glattes Gesicht verzog sich.
Es hätte fast ein Lächeln sein können.
Wind und Regen peitschten heftig, doch nicht ununterbrochen, und ein Großteil der Bevölkerung Miamis hatte bereits die Straßen verlassen und füllte die Versicherungsmeldungen für die Schäden aus, die sie zu erleiden planten, deshalb war der Verkehr erträglich. Eine
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