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Komm zurück, mein dunkler Bruder

Komm zurück, mein dunkler Bruder

Titel: Komm zurück, mein dunkler Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
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für Amtsträger. So sollte es niemanden überraschen, dass die Stadt einem Priester der Santería ein Gehalt nebst Sozialleistungen zahlt.
    Die Überraschung ist, dass er für sein Geld etwas tut.
    Jeden Morgen bei Sonnenaufgang erscheint der
Babalao
vor dem Gerichtsgebäude, wo er normalerweise ein oder zwei kleinere Tieropfer vorfindet, die von Menschen hinterlassen wurden, denen wichtige Verfahren bevorstehen. Kein Bürger Miamis, der noch alle Sinne beieinander hat, würde diese Dinge anfassen, aber selbstverständlich wäre es sehr schlechter Stil, tote Tiere vor Miamis großartigem Justiztempel herumliegen zu lassen. Deshalb entfernt der
Babalao
die Opfer, Kaurimuscheln, Federn, Perlen, Zauber und Bilder auf eine Weise, die die
Orishas
, die führenden Geister der Santería, nicht erzürnt.
    Außerdem ruft man ihn von Zeit zu Zeit, um für andere wichtige bürgerliche Anliegen Zauber zu wirken, wie das Segnen einer von einem Billiganbieter erbauten Überführung oder die Belegung der New York Jets mit einem Fluch. Diesmal hatte ihn offensichtlich meine Schwester Deborah gerufen.
    Der offizielle
Babalao
der Stadt war ein schwarzer Mann von ungefähr fünfzig Jahren, ein Meter achtzig groß, mit sehr langen Fingernägeln und einer beachtlichen Wampe. Er trug eine weiße Hose, eine weiße Guayabera und Sandalen. Mit der gekränkten Miene eines kleinen Beamten, den man bei der Ablage wichtiger Akten gestört hat, stapfte er zu uns herüber. Auf dem Weg putzte er mit dem Hemdzipfel seine schwarze Hornbrille. Er setzte sie auf, als er die Leichen erreichte, und erstarrte.
    Einen langen Augenblick schaute er nur. Dann zog er sich zurück, den Blick fest auf die Leichen geheftet. Nach ungefähr zehn Metern drehte er sich um, lief zum Streifenwagen und stieg ein.
    »Was, zum Teufel«, fluchte Deborah, und ich befand beifällig, dass sie die Dinge sehr hübsch zusammengefasst hatte. Der
Babalao
knallte die Tür zu und hockte auf dem Beifahrersitz, wo er geradeaus durch die Windschutzscheibe starrte und sich nicht rührte. Nach einem Moment murmelte Deborah: »Scheiße«, und ging hinüber zum Auto. Und weil ich, wie alle forschenden Geister, nach Erkenntnis suche, folgte ich ihr.
    In dem Moment, als ich den Wagen erreichte, klopfte Deborah gegen die Scheibe der Beifahrerseite, während der
Babalao
noch immer mit zusammengebissenen Zähnen stur geradeaus starrte und vorgab, sie nicht zu bemerken. Debs klopfte heftiger; er schüttelte den Kopf. »Öffnen Sie die Tür«, kommandierte sie in ihrem besten polizeilichen »Lassen-Sie-die-Waffe-fallen«-Ton. Sein Kopfschütteln wurde noch heftiger. »Aufmachen!«, befahl sie.
    Endlich kurbelte er die Scheibe herunter. »Damit habe ich nichts zu schaffen«, sagte er.
    »Um was handelt es sich dann?«, fragte Deborah.
    Er schüttelte nur den Kopf. »Ich muss zurück zur Arbeit.«
    »Ist es Palo Mayombe?«, fragte ich, was mir einen funkelnden Blick von Debs wegen der Unterbrechung einbrachte, aber die Frage schien gerechtfertigt. Palo Mayombe ist eine Art dunkler Ableger der Santería, und obgleich ich fast nichts darüber wusste, existierten Gerüchte über einige sehr bösartige Rituale, die mein Interesse geweckt hatten.
    Aber der
Babalao
schüttelte den Kopf. »Hören Sie, es gibt dort draußen Dinge, von denen Sie und Ihre Leute sich nicht die geringste Vorstellung machen, und Sie wollen auch nichts darüber wissen.«
    »Gehört das hier zu diesen Dingen?«, fragte ich.
    »Keine Ahnung«, erwiderte er. »Könnte sein.«
    »Was können Sie uns darüber sagen?«, bohrte Deborah.
    »Ich kann Ihnen nichts sagen, weil ich nichts weiß«, antwortete er. »Aber es gefällt mir nicht, und ich will nichts damit zu tun haben. Ich muss heute noch wichtige Dinge erledigen – sagen Sie dem Officer, dass ich losmuss.« Und er kurbelte das Fenster wieder hoch.
    »Scheiße«, fluchte Deborah und sah mich anklagend an.
    »Nun, ich habe nichts getan«, sagte ich.
    »Scheiße«, wiederholte sie. »Was, zum Teufel, soll das bedeuten?«
    »Ich tappe völlig im Dunkeln«, bekannte ich.
    »Mhm«, erwiderte sie, wirkte jedoch alles andere als überzeugt. Was einer gewissen Ironie nicht entbehrte. Ich meine, die Leute glauben mir die ganze Zeit, wenn ich, sagen wir mal, einen Tick weniger als absolut ehrlich bin – und hier stand mein eigen Adoptivfleisch und -blut und weigerte sich zu glauben, dass ich tatsächlich völlig im Dunkeln tappte. Abgesehen davon schien der
Babalao
dieselbe Reaktion

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