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Komm zurück, mein dunkler Bruder

Komm zurück, mein dunkler Bruder

Titel: Komm zurück, mein dunkler Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
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bösartige Erscheinung und Reputation für Cody und Astor als unwiderstehlich, und sie blieben vor den Schaukästen stehen. Selbstverständlich handelte es sich um einen ausgestopften Löwen, man nennt so etwas meines Wissens Diorama, dennoch fesselte er sie. Der männliche Löwe stand mit weit aufgerissenem Maul stolz über einer Gazelle, seine Reißzähne schimmerten. Neben ihm befanden sich zwei Löwinnen und ein Junges. Zu dem Diorama gehörte eine zweiseitige Erläuterung, und auf der Mitte der zweiten Seite entdeckte ich, was ich brauchte.
    »Nun denn«, begann ich munter. »Sind wir nicht froh, dass wir keine Löwen sind?«
    »Nein«, erwiderte Cody.
    »Hier steht«, fuhr ich fort, »dass, wenn ein männlicher Löwe eine Löwenfamilie übernimmt …«
    »Das heißt
Rudel
, Dexter«, korrigierte mich Astor. »Das weiß ich aus
König der Löwen

    »In Ordnung«, sagte ich. »Wenn ein neuer Löwenpapa ein Rudel übernimmt, tötet er alle Jungen.«
    »Das ist grauenhaft«, sagte Astor.
    Ich lächelte, um ihr meine scharfen Zähne zu zeigen. »Nein, es ist absolut natürlich«, versicherte ich. »Um die Seinen zu schützen und sicherzustellen, dass seine Jungen die Herren im Haus sind. Viele Raubtiere verhalten sich so.«
    »Was hat das mit uns zu tun?«, fragte Astor. »Du wirst uns doch nicht umbringen, wenn du Mom heiratest, oder?«
    »Natürlich nicht«, sagte ich. »Ihr seid jetzt meine Jungen.«
    »Was soll das dann?«
    Ich öffnete den Mund, um es ihr zu erklären, und spürte, wie mir die Luft entwich. Mein Mund stand offen, aber ich konnte nicht sprechen, weil mein Verstand von einem Gedanken durcheinandergewirbelt wurde, der so weit hergeholt war, dass ich nicht einmal versuchte, ihn zu verdrängen.
Viele Raubtiere verhalten sich so
, hörte ich mich selbst.
Um die Seinen zu schützen
, hatte ich gesagt.
    Was immer mich zum Raubtier machte, die Heimstatt lag im Dunklen Passagier. Und nun hatte etwas den Passagier vertrieben. War es möglich, dass …
    Das was? Ein neuer Passagierdaddy meinen Passagier bedrohte? Ich war in meinem Leben vielen Leuten begegnet, über denen ein Schatten hing, der dem meinem ähnelte. Und nie war etwas passiert, abgesehen vom stummen Erkennen und ein wenig lautlosem Knurren. Es war zu albern, um auch nur darüber nachzudenken – Passagiere haben keine Daddys.
    Oder?
    »Dexter«, sagte Astor. »Du machst uns Angst.«
    Ich muss zugeben, dass ich mir selbst Angst machte. Die Vorstellung, dass der Passagier ein Elternteil haben könnte, das ihn in tödlicher Absicht verfolgte, war entsetzlich albern – aber dennoch, woher war der Passagier eigentlich gekommen? Ich war mir halbwegs sicher, dass er mehr als eine psychotische Erfindung meines gestörten Verstandes war. Ich war nicht schizophren – das wussten wir beide. Die Tatsache, dass er jetzt verschwunden war, bewies, dass er unabhängig von mir existierte.
    Was wiederum bedeutete, dass der Passagier irgendwoher stammen musste. Er hatte vor mir existiert. Er hatte einen Ursprung, ob man den nun Elternteil nannte oder nicht.
    »Erde an Dexter«, sagte Astor, und mir wurde bewusst, dass ich nach wie vor stocksteif in meiner komischen, idiotischen Haltung mit weit klaffendem Mund vor ihnen stand wie ein pedantischer Zombie.
    »Ja«, meldete ich mich dümmlich. »Ich habe gerade nachgedacht.«
    »Hat es sehr weh getan?«, erkundigte sie sich.
    Ich klappte den Mund zu und starrte sie an. Sie starrte mit der ganzen Abscheu einer Zehnjährigen gegenüber der Blödheit der Erwachsenen zurück, und dieses eine Mal gab ich ihr recht. Ich hatte den Passagier stets für selbstverständlich gehalten und mich darum auch kein einziges Mal gefragt, woher er stammte und wie er ins Sein getreten war. Ich war selbstgefällig gewesen, lächerlich zufrieden, mir mit ihm einen Raum zu teilen, froh, ich zu sein und kein anderer, nichtssagender Sterblicher, und nun, da ein wenig Selbsterkenntnis die Lage hätte retten können, war ich sprachlos. Warum hatte ich nie zuvor über diese Dinge nachgedacht? Und warum hatte ich diesen Augenblick gewählt, um es zum ersten Mal zu tun, in Gegenwart eines sarkastischen Kindes? Ich musste dem Ganzen ein wenig Zeit widmen und darüber nachdenken – doch jetzt war selbstverständlich weder der Zeitpunkt noch der Ort dafür.
    »Tut mir leid«, entschuldigte ich mich. »Kommt, wir besuchen das Planetarium.«
    »Du wolltest uns aber erklären, warum Löwen wichtig sind«, wandte Astor ein.
    Ehrlich

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