Kommissar Joakim Hill - 02 - Die Frau im Schatten
dass die Fantasie am Ende mit ihnen durchging?
Sozusagen ohne weiteres Zutun.
Genauso intensiv, wie er es selbst gerade erlebt hatte.
Die Bilder vergangener Zeiten waren so wirklich gewesen. Er hatte vor seinem inneren Auge förmlich die Zeremonien der vornehmen Gesellschaft ablaufen sehen, obwohl er ohne jeden Zweifel wusste, dass sie nicht echt, sondern nur seiner ungewöhnlich starken Vorstellungskraft entsprungen waren.
Wenn nun die Damen da unten … also, man stelle sich einfach vor, sie hätten Schwierigkeiten, genau diese Grenze auszuloten? Er meinte natürlich nicht, dass sie sich bewusst täuschen ließen, nein, so dachte er wirklich nicht! Aber vielleicht täuschten sie sich selbst?
Wieder passierte er die Toilettenetage, beeilte sich diesmal jedoch, weiter ins dritte Stockwerk zu kommen.
Da war es bestimmt genauso leer wie vor einer Weile, und etwas anderes erwartete er auch nicht. Nein, er wollte am liebsten auch den Gästesaal links liegen lassen, dem Eingang zustreben und dieser peinlichen Farce ein würdiges Ende bereiten.
Doch er kannte seine Pflicht. Und mehr um der lieben Routine willen riskierte er einen zusätzlichen Blick in den Saal.
Er war tatsächlich noch immer leer. Aber zu seiner vollkommenen Überraschung ergriff ihn eine Eiseskälte.
Sie umhüllte ihn wie ein weißer Nebel und berührte sein Gesicht schamlos mit einer todesähnlichen, frostklammen Liebkosung. Drückte seine Schultern wie in einem Eispanzer nach unten, lähmte seine Glieder und schickte einen unwirklichen Schauder durch seinen gesamten Körper.
Er schaffte es nicht, die Hände zu heben.
Konnte nicht …
Die Pistole hing nutzlos in seiner schlaffen Hand, irgendwo auf Höhe des Oberschenkels.
Das Licht war gleißend blau.
Schmerzhaft blendende Strahlen drangen in seine Augen und weiter bis in die Hirnrinde, wo sie mit ungeahnter Kraft die Vernunft lahm legten. Sie kamen irgendwo aus der Mitte des Raumes und waren so stark, dass er sie unmöglich fokussieren, geschweige denn überhaupt irgendetwas erkennen konnte.
Doch er hörte etwas.
Hörte ein klagendes Wimmern.
Konnte den trauervollen Klang auf seinem Weg über Gewölbebögen, backsteinerne Kuppeln und Alkoven verfolgen.
Diesmal handelte es sich nicht um ein aufgeschrecktes Tier. Da war er ganz sicher. Es hörte sich wie eine menschliche Stimme an, und in dem verzerrten, dumpfen Rauschen vernahm er Worte, die sich zu einer Furcht erregenden Botschaft formten.
Sahlman war plötzlich wie gelähmt. Willenlos stand er da, wie ein Verurteilter, ein wehrloses Opfer vor dem Urteilsspruch, der aus unwirklich fernen Sphären zu ihm drang.
Er hatte Schwierigkeiten, etwas zu verstehen. Den Sinn der Worte zu erfassen, deren Bedeutung durch das intensive blaue Licht nicht zu ihm durchdringen konnten.
Schließlich gelang es ihm, den Arm schützend vor die Augen zu halten, und er glaubte, die Lichtquelle ausmachen zu können. Aber vor allem hörte er die klagende Stimme. Sie jagte an den Wänden entlang, verstärkte sich und wurde dann wieder gedämpfter, als käme sie aus einer anderen Dimension.
Dann verstummte sie.
Hing irgendwo direkt über ihm – und auf einmal verstand er die unheimliche Bedeutung der Worte.
»Will … will …«
Was wollte sie?
»Willll … ohhh …«
Sie driftete zwischen Sehnsucht und Verzweiflung – er selbst zwischen Einsicht und Vernunft.
»Mmmm … wiillll …«
Er hatte gedacht, so etwas existierte nur in der Fantasie oder in einem billigen Roman, doch jetzt brach ihm spürbar der kalte Schweiß aus, und er bekam unweigerlich eine Gänsehaut, die ihm die Haare zu Berge stehen ließ.
Sahlman würde es nie auch nur irgendwem erzählen. Niemals. Auch wenn sich ihm in dieser Lage die Nackenhaare bereits so gesträubt hatten, dass sie nahe dran waren, das Schweißleder seines Hutes zu erreichen.
Es hätte durchaus die Eiseskälte sein können, die ihm übel mitspielte, doch ihm war nur allzu schmerzlich bewusst, dass er hier das blanke Entsetzen erlebte.
Ein fürchterlicher Lärm löste die Stimme ab. Ein hohler, merkwürdiger Missklang, den Sahlman zuerst überhaupt nicht einordnen konnte. Er vermischte sich mit dem lauter werdenden Gejammer, wie um es zu übertönen oder zu ersticken.
Die Stimme grölte, quälte sich bis zum Wahnsinn, um endlich ihren Willen in einem rasenden Crescendo kundzutun.
»… LEBEN!!!«
Etwas Scharfkantiges flog Sahlman an den Kopf.
Obwohl der Stetsonhut das Gröbste abfing, tat es doch
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