Kommissar Morry - Der Judas von Sodom
freudig zu.
„Ich dachte schon, du wärst mir böse“, sagte sie scheu. „Wegen gestern nacht, verstehst du? Wie gut, daß es nicht so ist. Kommst du mit herein? Ich möchte etwas trinken.“
Burt Lukin schloß sich ihr wortlos an. Er trat neben ihr in die Weinstube ein und wählte einen dämmerigen Platz aus. Es war ziemlich dunkel in der abseits gelegenen Polsternische. Trotzdem erkannte Doris Kent, daß er wieder Rauschgift genommen hatte. Sie bemerkte es sofort. Er war weit entfernt von ihr. Seine verengten Pupillen blickten starr durch sie hindurch.
„Könntest du das nicht lassen, Burt?“ fragte sie kopfschüttelnd. „Es richtet dich doch zugrunde. Warum fängst du denn überhaupt nicht ein anderes Geschäft an? Einem Mann von deinen Fähigkeiten stünden doch alle Wege offen.“
Burt Lukin bestellte leichten Weißwein und mischte Orangensaft darunter. Sie tranken beide ihre Gläser leer. Sie taten es schweigsam und ip tiefe Gedanken versunken. Schon nach kurzer Zeit drängte Burt Lukin wieder zum Aufbruch. Er wirkte merkwürdig zerfahren und gehetzt. Seine Blicke irrten unruhig hin und her. In seinen Händen war ein nervöses Zittern. Die Finger verkrampften sich unablässig zu Fäusten und öffneten sich wieder.
„Warum gehen wir nicht endlich?“ fragte er gereizt. „Hier ist doch nichts los. Die Leute starren einen an, als wäre man das siebente Weltwunder.“
„Aber Burt“, sagte Doris Kent beruhigend. „Was du dir nicht alles einbildest. Kein Mensch kümmert sich um uns. Niemand schaut in unsere Ecke.“
Sie erhob sich aber trotzdem, um ihn nicht noch weiter zu reizen. Als sie dann draußen auf der Straße standen, wurde er wieder ruhiger. Er ging eng neben ihr her. Er legte den Arm um sie. In diesen Minuten fühlte sich Doris Kent glücklich und geborgen. Sie wußte nicht, wohin sie ging. Es war ihr auch gleichgültig. Sie hätte stundenlang so wandern mögen. Bis ans Ende der großen Stadt. Verwundert horchte sie auf, als ein monotones Gurgeln neben ihr erklang. Es war die Themse. In schwarzen Umrissen hob sich das Geländer aus dem Nebel.
„Wo sind wir?“ fragte Doris Kent unruhig.
„Am Sodom Wall.“
„Am Sodom Wall? Was wollen wir denn da? Wir müssen doch zum Wapping Basin.“
„Dies hier ist der kürzeste Weg.“
Doris Kent fragte nicht weiter. Sie drückte sich noch enger und fester an Burt Lukin, als könnte ausgerechnet er sie vor allen Gefahren schützen. Als sie die Hinterfront der Austern Bar erreicht hatten, blieb er stehen. Es war genau die Stelle, an der sich bisher die Morde ereigneten. Der Nebel war so dicht, daß man kaum einen Meter weit sehen konnte. Nirgends war eine Polizeistreife. Kein Mensch weit und breit. Kein Lebenszeichen, kein Geräusch, vom monotonen Raunen des Wassers abgesehen.
*
„Wollen wir nicht weitergehen?“ fragte Doris Kent ängstlich. Sie fürchtete sich plötzlich. Ihr war zumute, als strecke der Nebeldunst seine bleichen Arme nach ihr aus und wolle sie ins Wasser ziehen. Aber als sie dann die heißen Küsse Burt Lukins spürte, war diese Angst wieder verflogen. Sie dachte nicht mehr daran. Sie fühlte sich restlos glücklich. So leidenschaftlich hatte sie Burt Lukin nie gesehen. Er tat ihr fast weh. Seine Griffe begannen sie zu schmerzen. Auch war das Geländer in ihrem Rücken sehr lästig für sie. Die Querstange schnitt hart in ihren Körper. Sie spürte seine Hände auf ihrem Leib. Sie wanderten langsam aufwärts. Sie griffen nach ihrem Schal. Das seidene Tuch legte sich straff um ihren Hals.
„Laß doch los!“ sagte Doris Kent keuchend. „Ich kann ja kaum noch atmen. Geh bitte weiter! Du kannst mit in mein Zimmer kommen. Diesmal darfst du auch bleiben, wenn du willst.“
Burt Lukin rührte sich nicht von der Stelle. Er sprach auch kein Wort. Sein Gesicht war ein fahler, zuckender Fleck in der Dunkelheit. Verzerrt und gierig, entstellt und fratzenhaft. Seine Hände ließen nicht los. Sie zogen den Schal fester und fester. Sie verflochten die beiden Enden zu einem tödlichen Knoten. Jetzt endlich begriff Doris Kent, welche Katastrophe auf sie hereinstürmte. Jetzt erst dachte sie an das Schicksal Kate Hugards und Stephanie Malets. Sie stand an der gleichen Stelle. Sie erlitt dieselben Schmerzen. Es war der gleiche Mörder, der vor ihr stand. Erstickt und gurgelnd rief sie um Hilfe. Der dünne Schrei verhallte im Nebel. Es kam niemand, der ihr hätte helfen können. Zu einem zweiten Hilferuf kam sie nicht mehr. Es ging ihr
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