Kommissar Morry - Der Judas von Sodom
nichts zu tun.“
„Und welchen Zweck soll das ganze Theater haben?“
„Wenn man eine Frau an Bord hat“, erklärt ihr Ernest Prince, „dann ist alles viel leichter. Sollte uns die Strompolizei oder der Zolldienst in die Scheinwerfer bekommen, dann glauben sie vielleicht, wir machten wirklich eine Mondscheinpartie. Hast du kapiert?“
Marion Day nickte. Das leuchtete ihr ein. Und eigentlich war es nicht besonders gefährlich. Warum sollte ausgerechnet in der morgigen Nacht etwas passieren.
„Gut“, sagte sie mit einem verkrampften Atemzug. „Ich mache mit. Ich bin morgen Abend um elf Uhr am Themsetunnel in Wapping.“
„Brauchst du einen Vorschuß?“ fragte Ernest Prince.
„Ja“, sagte Marion Day zaghaft. „Ich muß gestehen, daß ich keinen Penny mehr in der Tasche habe.“
Sie bekam sechs größere Scheine. Fieberhaft rechnete sie nach, wie sie das Geld verwenden wollte. Es reichte für die Miete. Sie konnte das Essen in der Kantine bezahlen. Auch das Abendbrot für die ganze Woche war gesichert. Wenn alles gut ging, konnte sie übermorgen auch die fälligen Raten bezahlen.
„Besten Dank, Ernest“, sagte sie und stand auf. „Ich werde pünktlich sein. Du kannst dich auf mich verlassen.“
Sie erwartete, daß er gehen würde. Sie drängte ihn mit Worten und Gesten.
Aber er reagierte nicht darauf. Lässig und mit leeren Blicken blieb er in seinem Sessel sitzen.
„Kann ich nicht bleiben?“ fragte er mit dunkler Stimme.
Marion Day starrte ihn abweisend an. Sie wußte nicht, daß sich dieser Mann noch vor kurzem James Hatfield und Burt Lukin genannt hatte. Sie wußte auch nicht, daß er Blut an den Händen trug. Dennoch wollte sie ihn nicht länger um sich haben.
„Was willst du noch hier?“ fragte sie herb.
„Mein Gott, was will wohl ein Mann von einem hübschen Mädchen. Kommst du nicht selbst darauf?“
„No“, sagte Marion Day. „Auf diese Weise will ich mein Geld nicht verdienen. Ich tue morgen nacht, was du von mir verlangst. Aber nicht mehr, verstehst du? Ich bin nur für deine Geschäfte zu haben. Nicht auch noch für die Nacht.“
Sie hatte das Glück, daß Ernest Prince wirklich ging. Er bettelte nicht und er machte ihr auch keine Vorwürfe. Er ging wortlos aus dem Zimmer. Völlig schweigsam verließ er das Haus. In der nächsten Nacht hatte es Marion Day auffällig eilig, aus der Nähe der Austern Bar wegzukommen. Sie hörte die Stimme Angela Sirions hinter sich. Sie hörte auch die anderen Mädchen rufen. Aber sie drehte sich nicht mehr um.
Da sie Angst hatte, man würde hinter ihr herspionieren, lief sie durch zwei Durchfahrten und ein paar Hinterhöfe. Sie schlug einen Haken nach dem ändern. Sie ging raffiniert und überlegt zu Werk. Es gelang ihr auch, alle Konstabler abzuschütteln, die auf ihrer Spur waren. Der Weg in den Tod war frei. Es gab kein Hindernis mehr. Der Themsetunnel in Wapping lag etwa eine Viertelmeile unterhalb des Sodom Walls. Die Novembernacht war so trostlos und dunkel wie alle vorhergegangenen Nächte. Lichtlos und düster fiel das Ufer zum Strom ab. Rechts war der Tunnel, links zogen sich einige Bootsschuppen hin. Sie gehörten den Schiebern im Mulatten Klub. Die Polizei hatte bisher davon keinen Wind bekommen.
Minute um Minute verstrich. Vom ändern Ufer hallten elf dünne Schläge herüber. Irgendwo gellte die schrille Sirene eines Polizeikutters. Das Boot selbst war nicht zu sehen. Der Nebel lag wie ein grauer Schwamm über dem Wasser. Marion Day ging ruhelos am Ufer auf und ab. Vom Tunnel bis zu den Schuppen, von den Schuppen bis zum Tunnel. Bisher war nichts geschehen. Aber nun entdeckte sie plötzlich einige Gelbe, die geheimnisvoll um sie herumschlichen. Sie machten sich an den Schuppen zu schaffen. Sie schleppten mittelgroße Pakete hin und her. Sie zogen ein Motorboot aus den Baracken und ließen es zu Wasser. Geschickt und geräuschlos verstauten sie die Pakete im Heckraum.
Marion Day duckte sich fröstelnd zusammen. Sie hatte Angst vor den Gelben. Sie konnte diese schiefen Gesichter nicht ausstehen. Sie haßte diese hungrigen Fratzen.
„Das nenne ich pünktlich“, sagte eine dunkle Stimme neben ihr. „Wir sind soweit. Es kann losgehen! Die Nacht ist günstig. Man kann keine drei Meter weit sehen.“
Es war Ernest Prince, der vor ihr stand. Er führte sie die steile Böschung hinunter. Er half ihr in das schwankende Motorboot. Er zeigte ihr, wo sie stehen mußte. Er selbst übernahm das Steuer. Leise begann der Motor zu
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