Kommissar Morry - Die Woelfe
unmittelbar vor ihr ein Abgrund aufgetan. Sie strauchelte. Der jähe Schreck warf sie fast um. Heiß und ungestüm drängte ihr das Blut zum Herzen. Lallende Worte brachen von ihren Lippen. Vor ihr lag — im weißen Ärztemantel und mit dem randlosen Zwicker über den toten Augen — der praktische Arzt Dr. Vanmeren. Seine Hände waren seltsam abgespreizt, sein eingesunkenes Gesicht maßlos entstellt. Die linke Schädelhälfte klaffte in einer furchtbaren Wunde auseinander. Dunkles, geronnenes Blut bedeckte den Hemdkragen und den Anzug. Der Anblick war so gräßlich, daß sich Daisy Horway nicht von der Stelle rühren konnte. Bis sie plötzlich ein leises Geräusch aus dem Nebenraum hörte.
Entsetzt wandte sie das Gesicht der Verbindungstür zu. Der Mörder, dachte sie in panischem Schrecken. Der Mörder hält sich noch in diesen Räumen auf. Er hat mich eingelassen. Er hat das Licht eingeschaltet. Er allein führte diese teuflische Regie. Er wußte genau, daß ich vor Angst völlig gelähmt bin und mich nicht wehren kann. Er wird leichtes Spiel mit mir haben.
Wie von Zauberhand gelöscht, ging plötzlich das Licht aus. Daisy Horway stand furchtsam und verzweifelt in der schwarzen Finsternis. Mit einem irren Aufschrei drehte sie sich um. Sie lief in den Korridor hinaus. Hinter ihr klappte eine Tür. Sie
glaubte Schritte in ihrem Rücken zu vernehmen. Gehetzt lief sie auf die Haustür zu.
Sie wußte, daß sie nie mehr auf die Straße kommen würde. Es war alles sinnlos, was sie tat. Diesem Mörder würde sie niemals entkommen. Und dennoch lief sie weiter. Drei, vier Schritte taumelte sie noch vorwärts. Dann war ihr Weg plötzlich zu Ende. Ein dünner Lichtstrahl streifte über ihr Gesicht. Zwei starke Arme nahmen sie in Empfang. Daisy Horway schrie gellend auf. Sie wollte sich losreißen, wollte sich mit einem harten Ruck aus dem Griff dieser Hände befreien.
Da sagte plötzlich eine jugendliche Stimme: „Wovor fürchten Sie sich eigentlich, Miss Horway? Ich bin's, Kommissar Morry.“
Noch nie in ihrem Leben hatte Daisy Horway so befreit aufgeatmet wie jetzt, in dieser Sekunde. Die ausgestandenen Ängste lösten sich in einem trockenen Schluchzen.
„Der Mörder“, stammelte sie, „der Mörder ist in diesem Haus, Sir! Er hat Dr. Vanmeren getötet. Er war auch hinter mir her. Er folgte mir in den Flur. Er wollte mich auf die gleiche Weise . . .“
„Jetzt ist er sicher nicht mehr da“, murmelte Morry zerstreut. „Er hat inzwischen das Weite gesucht. Er wittert die Nähe der Polizei mit todsicherem Instinkt. Aber machen Sie sich keine Sorgen deshalb. Er entkommt uns nicht. Ich weiß jetzt, wer er ist.“
20
Als Daisy Horway endlich wieder zu sich kam, saß sie in dem warmen Dienstwagen Kommissar Morrys. Häuser, Kreuzungen und Laternen flogen an den Scheiben vorüber. Dünn und rieselnd sprühte der Regen gegen die Scheiben. Daisy Horway schloß die Augen und kuschelte sich behaglich in ihre Ecke. Hier fühlte sie sich geborgen. Hier gab es keine Gefahren für sie. Am liebsten wäre sie in diesem Wagen bis ans Ende der Welt gefahren. Aber schon nach kürzester Zeit hielt der Wagen wieder an.
„Wo sind wir?“, fragte Daisy Horway zerstreut.
„Am Hotel Astoria“, murmelte Morry. „Kommen Sie! Wir wollen mit dem Mann sprechen, der Sie beinahe in den Tod gehetzt hätte.“
Sie gingen am Portier vorüber und traten in die Halle ein. Ohne Aufenthalt schritten sie auf das Büro des Geschäftsführers zu. Kommissar Morry nahm sich kaum die Zeit, an die Tür zu klopfen. Er stand schon in der nächsten Sekunde mit Daisy Horway in dem elegant ausgestatteten Raum.
„Na, Mr. Rembolt?“, fragte er mit schneidendem Hohn. „Es klappt nicht mehr so richtig, wie? Daisy Horway hätte eigentlich nicht wiederkommen dürfen. Wenn es nach Ihrem Wunsch und Willen gegangen wäre, so läge sie jetzt tot in den Praxisräumen Dr. Vanmerens.“
Clement Rembolt taumelte schreckensbleich hinter seinem Schreibtisch auf. Steil stellten sich seine Haare in die Höhe. Sein Gesicht war verwüstet von Angst und Entsetzen. „Was reden Sie denn da, Kommissar?“, würgte er hervor. „Welche Schuld wollen Sie mir denn jetzt schon wieder in die Schuhe schieben?“
„Sie haben“, sagte Morry scharf, „dieses Mädchen zu dem praktischen Arzt Dr. Vanmeren geschickt. Sie wußten genau, was sie dort erwarten würde. Ihr Tod war beschlossene Sache. In wessen Auftrag handelten Sie, Mr. Rembolt? Wer gab Ihnen den schurkischen
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