Kommissar Morry - Ich habe Angst
muß ihn noch eine Stunde aufhalten. Er darf nicht ahnen, warum. Er muß noch sechzig Minuten an meiner Seite bleiben, ob er will oder nicht. Während sie langsam durch die Straßen fuhr, spähte sie nervös nach allen Seiten. Sie sah keine Lichter mehr in den Lokalen. Die Pubs hatten längst geschlossen. Auch die Cafes lagen dunkel. Aber dann entdeckte sie plötzlich ein kleines Boardinghouse, das mit hellen Fenstern an der nächsten Kreuzung lag. In den oberen Stockwerken befanden sich die Fremdenzimmer. Im Erdgeschoß war eine bescheidene Bar eingerichtet
„Seien Sie mir nicht böse, Mr. Havard", sagte Esther Harras beklommen. „Ich hätte noch Appetit auf ein Sandwich und ein Glas Zitronensaft. Das halbe Stündchen wird Ihnen sicher nichts ausmachen. Oder doch?"
„Nein", sagte Jack Havard freundlich. „Ich werde noch ein Glas Bier trinken."
Sie stiegen aus. Sie gingen auf das Boardinghouse zu. Als sie in die Bar traten, sahen sie, daß alle Stühle auf den Tischen standen. Die Kellner waren bereits in Hut und Mantel. Nur der Nachtportier war in der üblichen Livree und döste schläfrig in seiner Ecke hinter dem Schalterbrett.
„Tut mir leid, meine Herrschaften", sagte der Ober frostig. „Wir schließen jetzt. Wenn Sie noch etwas trinken wollen, müßten Sie sich eine Flasche mit nach Hause nehmen."
„Wir wollen ja gar nichts trinken", sagte Esther Harras und war plötzlich ganz kühl und beherrscht. „Wir wünschen ein Zimmer. Haben Sie verstanden?"
„Oh, Entschuldigung, Madam", sagte der Ober. Der Nachtportier erwachte aus seinem Dösen.
„Ein Doppelzimmer für die '.Herrschaften", brummte er geschäftsmäßig, „macht genau achtzehn Schilling. Dafür haben Sie alle Bequemlichkeiten. Fließendes Wasser, Zentralheizung und...“
Esther Harras legte eine Pfundnote auf das Schalterbrett, noch ehe Jack Havard etwas sagen konnte.
„Geht auf", murmelte sie. „Geben Sie uns den Schlüssel."
Sie ging die Treppe hinauf. Sie war immer um ein paar Schritte voraus. Im ersten Stock ging sie suchend die Türen entlang. Nr. 16. Hier war es. Sie sperrte auf. Sie trat über die Schwelle und streifte flüchtig die blendend weißen Betten und die beiden Polstersessel, die um einen winzigen Tisch standen. Sie drehte sich nicht um. Sie hörte auch so, daß Jack Havard hinter ihr ins Zimmer kam. Sie fühlte seine erstaunten Blicke auf ihrer Haut brennen. Aber sie tat noch mehr. Sie zog ihren Mantel aus und hängte ihn in den Schrank, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. Sie setzte sich in einen Sessel und schlug kokett die Beine übereinander. Ihr Kleid rutschte über die Knie.
„Na, was stehen Sie so hölzern herum, Mr. Havard?" fragte sie spöttisch. „Haben Sie so etwas noch nie erlebt? Oder machen Sie sich prinzipiell nichts aus solchen Abenteuern?"
Jack Havard blickte ungläubig zu ihr hin. Er nagte ratlos an seinen Lippen. Die ganze Welt schein für ihn plötzlich auf dem Kopf zu stehen.
„Ich habe Sie falsch eingeschätzt, Miß Harras", sagte er kühl. „Ich kann mir auch heute noch nicht vorstellen, daß Sie an leichtsinnigen Abenteuern Spaß finden."
„Und von Liebe haben Sie wohl noch nie etwas gehört?" sagte Esther Harras mit herausforderndem Lächeln. „Ich mag Sie eben, Mr. Havard. Im Cafe Tabarin waren Sie mir zu langweilig. Da dachte ich mir, hier in diesem Zimmer würden Sie mehr aus sich herausgehen. Aber ich glaube, ich habe mich abermals getäuscht. Sie sind ein trockener und verknöcherter Bürokrat, mit dem nichts anzufangen ist."
Jack Havard war sprachlos. Er ging auf sie zu. Er ließ sich neben ihr im Sessel nieder. Er redete in kameradschaftlichem Ton auf sie ein.
„Ich glaube, Sie haben zuviel Likör getrunken, Miß Harras", meinte er begütigend. „Es wäre schäbig von mir, wenn ich Ihre Lage ausnützen würde. Legen Sie sich nieder. Schlafen Sie sich aus. Ich werde Weggehen."
Esther Harras blickte auf die Uhr. Es war zehn Minuten vor zwei.
„Warten Sie noch", bat sie. „Helfen Sie mir beim Ausziehen. Ich bringe den Reißverschluß nicht allein auf. Er ist dummerweise am Rücken."
Jack Havard spürte, wie seine Hände zitterten. Ein betörender Duft ging von ihrer Haut aus. Sie war in diesen Sekunden so verführerisch, daß er sie am liebsten in die Arme gerissen hätte. Er wandte sich hastig ab und löschte das Licht, um sie nicht mehr sehen zu müssen.
Unschlüssig blieb er an der Tür stehen. Seine Hand streckte sich nach der Klinke
Weitere Kostenlose Bücher