Kommissar Morry - Ich habe Angst
entgegensehen."
„Das schon", murmelte Charles Egerton. „Aber was ist nun mit dem Mädchen? Ich dachte, Sie wollten Lydia Blomfield schon heute Vormittag in Sicherheit bringen?"
„Sie ist nicht gekommen", gab Jack Havard kleinlaut zu. „Ich wartete zwanzig Minuten vergebens unten am Portal. Anscheinend hat sie es sich wieder anders überlegt."
Ihr Gespräch wurde unterbrochen. Es klopfte an die Tür. Noch ehe sie .Herein' rufen konnten, trat Kommissar Morry über die Schwelle. Er machte ein ernstes Gesicht. Er wirkte deprimiert und niedergeschlagen. Seine Haut war grau, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen.
„Ich komme mit einer schlechten Nachricht", sagte er zaudernd. „Lydia Blomfield ist tot."
„Tot?"
Jack Havard stieß polternd seineriStuhl zur Seite. Auch Charles Egerton war erregt aufgesprungen.
„Tot?" fragten sie wie aus einem Munde.
„Sie wurde ermordet."
Jack Havard spürte, wie es in seinen Fäusten zuckte. Ein sinnloser Zorn stieg in ihm auf. Seine Kehle war auf einmal wie zugeschnürt. Er erstickte fast an seinem Grimm.
„Wie konnte das geschehen?" fragte er dumpf.
Kommissar Morry blickte betreten vor sich hin. Es fiel ihm sichtlich schwer, die Niederlage einzugestehen.
„Wir richteten unser ganzes Augenmerk auf Professor Cavell", sagte er. „Ihn hielten wir für gefährdet. Sein Leben wollten wir beschützen. An Lydia Blomfield dachten wir nicht. Der Mörder nützte brutal diese Chance."
„Ich weiß auch, warum er es tat", knirschte Jack Havard. „Lydia Blomfield legte gestern Abend eine Beichte ab. Sie ließ mich zum erstenmal hinter die Kulissen Alban Lampards schauen. Wir wissen jetzt, wie die Verbrechen aufgezogen wurden. Es fand sich immer ein Helfer wie Edward Brandon, der den brutalen Schlußstrich ziehen mußte. Die Bräute kassierten das Geld. Und Alban Lampard steckte es ein, ohne selbst einen Finger gerührt zu haben."
„Ja", sagte Kommissar Morry gedehnt. „Das ist mir jetzt auch klar. Sie hatten von Anfang an recht mit dem Verdacht, Mister Havard. Es handelt sich hier um den größten Versicherungsbetrug, der je über die Bühne des Verbrechens ging."
Jack Havard unterbrach seine nervöse Wanderung. Er blieb vor dem Kommissar stehen und blickte entmutigt zu ihm hin.
„Wie geht es jetzt weiter?" fragte er ratlos. „Wie lange kann Alban Lampard noch sein Unwesen treiben? Gibt es denn keine Möglichkeit, diesen Satan unschädlich zu machen?"
Wieder hob Morry die Schultern.
„Es wird schwer sein, ihn ans Licht zu zerren. Er hält sich verborgen im Hintergrund. Er hat sich irgendwo verkrochen. Nun suchen Sie mal dieses Versteck, Mr. Havard. Wo wollen Sie mit der Razzia beginnen?"
„Ja, wenn man wüßte, in welchem Rattennest er sich verkrochen hat", seufzte Jack Havard, „dann wäre alles leicht. Aber so werden wir wohl ein wenig im Dunkeln tappen. Wir haben keine Chance, diese Bestie aufzuspüren."
„Doch", sagte Kommissar Morry, und seine alte Energie gewann wieder die Oberhand. „Einen Trumpf haben wir doch. Dieser Trumpf heißt Edward Brandon. Er ist der Bruder der Toten. Hinter ihm sind wir her. Ich fand sein Foto in unserer Kartei. Er hatte früher schon mal eine Dummheit gemacht. Ich ließ dreitausend Steckbriefe auf Litfaßsäulen kleben. Ich alarmierte die Fahndung. Zweihundert Beamte sind unterwegs, um Edward Brandon einzufangen."
„Und wenn Sie ihn fangen sollten?" fragte Direktor Egerton wißbegierig.
„Dann würden wir ihn sicher zum Plaudern bringen", meinte der Kommissar.
20
Jack Havard fühlte sich recht unglücklich, als er an diesem Abend das Versicherungsgebäude verließ. Er mußte immerfort an Lydia Blomfield denken.
Sie wäre nicht gestorben, wenn ich rascher gehandelt hätte, sinnierte er. Ich hätte sie gar nicht mehr in jenes Haus gehen lassen sollen. Ich hätte sie gleich mitnehmen müssen, dann wäre sie jetzt noch am Leben. Und weiter grübelte er: Wie konnte Alban Lampard wissen, daß sich Lydia mit mir ausgesprochen hatte? Wußte er, daß sie mir alles berichten würde? Hatte er uns belauscht? Wurde ihm unser Gespräch verraten? Sein Grübeln blieb ohne Erfolg. Es war eben eine bittere Niederlage, die er überwinden mußte. Vielleicht war es für Lydia am besten so. Ihr Leben wäre ja doch nur voller Kummer und Leid gewesen. Stundenlang irrte Jack Havard kreuz und quer durch die Straßen. Um neun Uhr abends stand er plötzlich am Cattle Market. Er sah das Cafe Tabarin vor sich liegen. Unwillkürlich
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