Kommissar Pascha
Holzstuhl, auf dem Gül Güzeloğlu in langärmligem Nachthemd stand, fügte sich in das harmonische Gesamtbild ein. Gül wirkte wie ein Gespenst, so wie sie gerne in Kinderbüchern gezeichnet werden. Was an ihrem Anblick störte, war das Seil um ihren Hals. Es war an dem robusten Lüsterhaken in der Decke festgezurrt. Gül hatte die Augen geschlossen und wiegte den Kopf hin und her. Sie summte eines der traurigsten Lieder von Sezen Aksu. Er kannte es in- und auswendig:
Sorma
– Frag nicht.
»Lütfen«,
flüsterte Kommissar Demirbilek auf Türkisch. Er konnte nicht einschätzen, ob die Frau, die sich vor seinen Augen das Leben nehmen wollte, ihn überhaupt wahrnahm. Behutsam näherte er sich.
Da riss sie plötzlich die Augen auf und schrie entsetzlich laut. Im Rücken des Kommissars richtete ein maskierter Mann eine Pistole auf ihn. Instinktiv warf sich Demirbilek zu Boden, ohne sich umzudrehen. Das Projektil zischte knapp an ihm vorbei und durchschoss die Glasscheibe der Flügeltür. Demirbilek blickte hoch. Der Schütze war geflohen.
Gül Güzeloğlu war bei dem Schuss zusammengezuckt und mit dem Seil um den Hals vom Stuhl gekippt. Ihre nackten Füße baumelten etwa achtzig Zentimeter über dem Parkettboden. Demirbilek richtete sich auf und sprang zu ihr. Packte sie an der Hüfte und hielt sie hoch, damit das Seil weniger Druck auf ihre Luftröhre ausübte. Mit dem rechten Fuß schaffte er es, den umgefallenen Stuhl aufzustellen. Dann stieg er auf den Stuhl und hievte sie zu sich hoch.
So hielt Zeki Demirbilek die nach blühenden Rosen duftende Gül Güzeloğlu fest im Arm. Bis Isabel Vierkant zu Hilfe kam.
Innerhalb der nächsten fünf Minuten trafen zwei Krankenwagen und die Einsatzfahrzeuge der Spurensicherung ein. Die äußerlich unversehrte Gül Güzeloğlu wurde zur Beobachtung ins Klinikum Harlaching gebracht. Der Kommissar verzichtete, trotz Drängens des Notarztes, auf psychologische Betreuung. Stattdessen wählte er Özlems Handynummer. Seine Tochter wartete stinksauer in seiner Küche. Sie hatte für ihn und Aydin eingekauft. Was konnte wichtiger als das Wiedersehen mit dem eigenen Sohn sein, fragte sie verständnislos. Ob er nicht dazugelernt habe in all den Jahren? Demirbilek erwähnte bei dem Telefonat nicht, dass vor dreißig Minuten eine Kugel knapp seinen Körper verfehlt hatte. Er wollte nicht darüber sprechen. Lieber ließ er die Vorwürfe über sich ergehen.
Die Ermittler stellten einen brauchbaren Stiefelabdruck im Rosenbeet im hinteren Garten sicher. Die Befragungen der Umzugsarbeiter brachten keine neuen Erkenntnisse. Fünf von ihnen waren nach dem Schuss abgehauen. Vermutlich Illegale, schätzte Vierkant die Beweggründe ein. Die zwei zurückgebliebenen Arbeiter wollten wissen, von wem sie ihren Lohn bekommen würden. Zum Tathergang oder zur Identität des maskierten Schützen konnten sie nichts beitragen.
Kommissar Demirbilek wurde leicht übel bei dem Gedanken, dass auch der vierte Mord mit Gül Güzeloğlu zusammenhängen musste. Ihm war klar, dass die Ärzte direkt nach ihrem Selbstmordversuch kein Verhör zulassen würden. Die dringend notwendige Befragung musste warten. Er überließ es Vierkant, dem Team Bescheid zu geben, zur Lagebesprechung morgen früh um acht im Büro zu sein.
Trotz des verübten Mordanschlags auf ihn befahl der Kommissar, den Fall bis zur Besprechung am nächsten Tag ruhen zu lassen.
[home]
44
E s war kurz nach sieben Uhr, als Demirbilek auf der Grünwalder Straße ein Taxi anhielt. Auf dem Heimweg bat er den Fahrer, an einem Matratzen-Discounter zu halten. Auf die Schnelle entschied er sich für einen Futon, der in den Kofferraum passte. Für ein gutes Trinkgeld half der Taxifahrer, die zusammengerollte Matratze in den zweiten Stock hochzutragen. In Gedanken malte er sich aus, wie er seinen Sohn gleich in den Arm nehmen würde. Er schloss die Tür auf.
»Aydin!
Merhaba oğlum. Hoşgeldin!
«, rief er erwartungsvoll und bugsierte den Futon in den Flur. Doch eine Antwort blieb aus. Er machte sich Sorgen. War etwas passiert? Ist er womöglich gar nicht nach München gekommen? Oder ist er mit zu seiner Schwester in die WG ? Die Geschwister hatten sich im Gegensatz zu ihm über die Jahre nicht aus den Augen verloren. Özlem besuchte ihren Bruder, sooft es ging, in Istanbul, bei der Gelegenheit sah sie auch ihre Mutter.
In der Küche stockte ihm der Atem. Niemand erwartete ihn. Aber auf dem Tisch lag eine Nachricht: »Sind an der Isar.
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