Kommissar Stefan Meissner 01 - Eine schoene Leich
Meißner besänftigen. Seine Rechnung ging nur zum Teil auf. Auch im Lokal hatte Meißner den Tunnelblick aufgesetzt und beteiligte sich kaum an der Unterhaltung über die Lokalereignisse des kommenden Wochenendes. Aber immerhin hockte er mit ihnen am Tisch und verhielt sich friedlich.
Kurz vor zwei Uhr fuhren sie hinüber zum Hauptbahnhof auf der anderen Donauseite. Sein Vorläufer, der Ingolstädter Centralbahnhof, war 1945 zerbombt worden. Das schäbige Gebäude, das nach dem Krieg als Ersatz errichtet worden war und nicht gerade aussah wie das Bahnhofsgebäude einer Großstadt, war erst kürzlich um- und ausgebaut worden. Die neu gestaltete Halle wurde offenbar als Treffpunkt und im Winter wahrscheinlich auch als Wärmestube benutzt. Als Meißner und Marlu sie durchquerten, hatte sich auf einer Steinbank entlang der verglasten Vorderfront eine dichte Reihe meist älterer Herren niedergelassen. Unter der Bank waren die Heizkörper angebracht, die aber zu dieser Jahreszeit noch nicht eingeschaltet waren. Keiner von ihnen sah aus wie ein Reisender. Keiner hatte auch nur ein Gepäckstück bei sich.
In der Bäckerei und in der Imbissbude war jetzt, am frühen Nachmittag, richtig was los, sogar im Internetcafé mit seinen abwaschbar aussehenden Möbeln. Auch in der kleinen Buchhandlung standen Leute und blätterten in den Zeitschriften oder überflogen die Titel der Taschenbücher mit den gelben oder roten Aufklebern, auf denen »Bestseller« stand.
Als sie den Bahnsteig erreichten, fuhr gerade der Regionalexpress aus München ein.
Sie gingen zurück und warteten vor dem Eingang zur Bahnhofshalle, bis die ersten Reisenden aus der Unterführung kamen. Meißner erkannte die blonde Frau Mitte dreißig sofort, als sie auf sie zukam. Er hatte sich Naums Videoaufnahmen oft genug angesehen. Sie trug einen Koffer und eine Reisetasche, beides offenbar leer, denn sie schienen ihr keine Mühe zu machen. Sie war sehr schlank, fast schon dürr, und ihr großflächiges Gesicht wirkte knochig. Sie hatte keinerlei Schmuck angelegt, und in ihrem beigefarbenen Mantel wirkte sie unscheinbar und blass. Sie schien sich in ihrer Haut nicht wohlzufühlen. Ingolstadt war bestimmt kein Ort, an den sie gerne zurückkam. Und dann noch die Polizeieskorte, die auf sie wartete. Schüchtern und eher kühl gab sie Meißner die Hand. Er nahm ihr die beiden Gepäckstücke ab.
»Und Sie sind sicher, dass er nicht da ist?«, fragte sie auf dem Weg in die Innenstadt.
»Ja, aber wir werden auf jeden Fall zuerst reingehen«, sagte Meißner.
»Sie dürfen auf keinen Fall meine Telefonnummer weitergeben.«
»Natürlich nicht«, sagte Marlu. »Sie können sich auf uns verlassen.«
Meißner beobachtete die Frau im Rückspiegel, als er über die Adenauer-Brücke fuhr. Etwas erschrocken betrachtete sie die Silhouette der Altstadt, aus der die trutzigen weißen Mauern des Neuen Schlosses über dem Donauufer herausragten. Er fuhr die Schlosslände entlang, bog in den Unteren Graben ein und von dort in die Beckerstraße. Vor dem Haus Nummer 2 parkte er. Frau Haschova sah den afrikanischen Laden offenbar auch zum ersten Mal.
»Hier war der Laden von Frau Milchmeier! Jana, meine Tochter hat immer Karamellbonbons bei ihr bekommen, wenn ich dort eingekauft habe.«
Beim Aussteigen sah sich Meißner auf der Straße um. Nichts Auffälliges. Sie klingelten bei Grote, bekamen aber wie erwartet keine Antwort, sodass sie die Haustür mit Frau Haschovas Schlüssel öffneten und hinaufgingen. Meißner trug die Koffer. Frau Haschova sah ängstlich das Treppenhaus hinauf, als würde sie oben jemanden erwarten. Jemanden. Ihn. In einer der Erdgeschosswohnungen hörten sie eine Küchenmaschine anlaufen, ansonsten war es still.
Auf dem ersten Treppenabsatz sagte Meißner: »Geben Sie mir den Schlüssel.«
Sie suchte in ihrer Jackentasche und reichte ihm den Schlüssel, ohne den Blick von der Wohnungstür über ihr zu wenden.
»Sie warten jetzt bitte hier. Wir gehen voraus.«
Meißner stellte das Gepäck ab, zog seine Pistole und entsicherte sie. Marieluise sah ihn ungläubig an, doch er forderte sie mit einem Kopfnicken auf, dasselbe zu tun.
Als sie so weit war, gingen sie zur Wohnungstür. Meißner klingelte erneut und legte das Ohr an die schwere dunkle Holztür. Nichts. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Als er wieder kein Geräusch vernahm, drückte er die Klinke hinunter und betrat die Wohnung mit der Pistole im Anschlag. Marieluise gab er
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