Kommissar Stefan Meissner 01 - Eine schoene Leich
tun sollte, trat eine schmale, blonde Frau ans Fenster: Helena! Sie war zurückgekommen. Mit der Polizei! Er verbarg sich hinter einer der Arkaden, und als er wieder einen Blick riskierte, war die Frau weg. Ohne nachzudenken sprang er aus seiner Deckung und lief über die Beckerstraße. Die Haustür war nur angelehnt. Im Treppenhaus blieb er stehen und lauschte. Es war still, also nahm er an, dass sie seine Wohnungstür geschlossen hatten. Er schlüpfte aus seinen Schuhen, nahm sie in die Hand und rannte die Treppe bis zum Absatz im zweiten Stock hinauf. Auf der letzten Stufe drückte er sich an die Wand. Als er seinen Atem wieder unter Kontrolle hatte und ruhiger wurde, hörte er Stimmen aus der Etage unter ihm. Die Tür ging auf, und ein schlanker, etwa ein Meter fünfundachtzig großer Mann, den er auf Mitte vierzig schätzte, tauchte im Treppenhaus auf. Ein Bulle. Der war doch schon mal hier im Haus gewesen, zusammen mit diesem jüngeren Typen, dem Schwulen.
Grote ging einen Schritt zurück, um nicht gesehen zu werden, dann hörte er weitere Personen. Die klappernden Absätze mussten von Helena sein. Er wagte nicht, sich nach vorne zu lehnen, ins Treppenhaus, hörte sie nur die Treppen hinuntersteigen. Sie mussten zu dritt sein.
»Was mache ich jetzt mit den Sachen?«, fragte Helena.
»Ich werde Sie nach Hause fahren«, sagte eine Frau. »Die Balanstraße ist doch beim Ostbahnhof? Da finde ich schon hin. Ihre Tochter macht sich vielleicht schon Sorgen. Wollen Sie bei ihr anrufen?«
Er hörte, wie die Haustür aufging. Von der Straße drang Verkehrslärm herein, dann fiel die Tür wieder zu. Nach einer Weile zog er die Schuhe wieder an, ging in den ersten Stock hinunter und schloss die Wohnungstür auf. Alles sah genauso aus, wie er es vor drei Tagen verlassen hatte. Nur Helenas Kleider fehlten, und das Bücherbord im Kinderzimmer war leer.
Drei Tage vorher war er mit dem Auto herumgefahren, bis fast kein Benzin mehr im Tank war. Dann war er gelaufen, am Fluss entlang, hatte etwas gegessen und dann im Auto übernachtet. Am nächsten Tag hatte er getankt und war weitergefahren. Er konnte sich an Städte wie Augsburg, Donauwörth, Nördlingen erinnern.
Das Fenster in der Küche hatten sie wieder geschlossen. Nur auf dem Tisch war eine Ecke frei geräumt worden. Grote nahm eine große Einkaufstasche vom Haken an der Tür und stopfte ein paar Unterlagen hinein. Fotos, die er in einer Schublade fand, eine Tafel Schokolade, die herumlag. Er nahm einen dicken Pullover aus dem Schrank, legte ihn sich um die Schultern, dann öffnete er die Wohnungstür einen Spalt breit und lauschte. Er hängte sich die Einkaufstasche um und stieg die Treppe hinunter. Am Eingang sah er noch in den Briefkasten. Die Anzeigenblätter warf er auf den Boden. Als er die Haustür öffnete, kam ihm der Grieche aus dem dritten Stock entgegen, dessen Name er vergessen hatte. Er hatte gesoffen. »Grieß Gott«, lallte er mit schwerer Zunge, doch Grote ging wortlos an ihm vorbei durch die Tür.
Er überquerte den Hof des Altersheims, schloss die Autotür auf und warf die Einkaufstasche und den Pullover in den Kofferraum. Auf der Rückbank lagen ein ausgerollter Schlafsack und sein Laptop. Er fuhr die Roßmühlstraße hinunter und die Donau entlang. Über die Schillerbrücke gelangte er auf den Ring und bog an der Saturnarena auf die Manchinger Straße und von dort auf die A 9, Anschlussstelle Ingolstadt-Süd.
Balanstraße. Er wusste, wo das war. In München, beim Ostbahnhof. Er hatte mal einen Kunden in der Nähe gehabt. Dort also wohnte Helena jetzt mit Jana, die er seit Wochen nicht gesehen hatte. Er wusste, dass die Balanstraße lang war und Helena mit Sicherheit nicht im Telefonbuch stand. Er hatte noch keine Idee, was er machen würde, aber er würde hinfahren.
Sechzig Minuten später verließ er die Autobahn am Unterföhringer Ring, überquerte die Isar, fuhr am Heizkraftwerk vorbei zum Effnerplatz und von dort über den Ring und die Einsteinstraße zum Ostbahnhof. Er kreuzte die Rosenheimer Straße und war in der Balanstraße. Sie war mehrere Kilometer lang, führte stadtauswärts nach Ramersdorf, stadteinwärts zum Rosenheimer Platz. Es gab ein paar vierstöckige Altbauten und neue Wohnanlagen, die etwas höher waren. Sozialer Wohnungsbau. Sie hatten gesagt, die Wohnung wäre eher in Bahnhofsnähe. Also musste er nicht ganz so weit draußen suchen. Er würde sich zuerst zwischen Rosenheimer Platz und Welfenstraße umsehen und sich
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