"Kommst du Freitag"
charmanten Kollegen trinkst und plauderst und plauderst und trinkst und keine Ende findest, und seine Frau ist weit weg, und dein Freund ist weit weg, und keiner von beiden hat vor, die Frau oder den Freund infrage zu stellen oder gar zu verlassen, und beide wissen, keiner würde merken, ginge man jetzt noch auf einen Kaffee zu ihm oder zu dir ... Die erste Kälte des Herbstes kriecht aus dem Asphalt der Auguststraße, er legt sein Jackett um deine Schultern. Und noch eine Anekdote und noch eine Lästerei und noch ein Drink. Gekicher, Vertrauen aus dem Nichts, Komplizenschaft blitzschnell. Glanz in den Augen, in seinen,in deinen. Ist es nur der Schwips? Der Alkohol lockert, löst, frohlockt. Der böse Wolf ist wieder in deinem Kopf zu Gast, er tollt herum, er will dich vom rechten Weg abbringen und flüstert: Was ist schon ein Kuss, ein Kuss, ein Kuss? Du lachst lauter und redest mehr, um den bösen Wolf zu übertönen, zu überhören, maultot zu machen. Aber er raunt lauter und lauter.
An dieser Stelle des Abends habe ich gezahlt, bin nach Hause gegangen und das allein, immer. Einerseits tat ich das auch, weil die in Rede stehenden Männer artiger handelten als ihre unternehmungslustigen Blicke verrieten. Andererseits tat ich das vor allem, weil es mir das nicht wert war, für eine schnelle und nur mutmaßlich heiße Nummer meine große, warme Liebe zu riskieren. Mal ging ich beschwingt heim, mal irritiert, mal fragte ich mich, bockig: Muss man denn immerzu vernünftig, artig, zivilisiert sein?
Spätestens am nächsten Morgen war ich heilfroh, so heilfroh: Ein Seitensprung nach dem Motto, Gelegenheit macht Diebe? Das wäre armselig gewesen und bestimmt eklig. Fand ich. Andere nennen mich brav. Egal.
Was übrig blieb von diesen flirrenden mehrdeutigen Situationen am Rande der Beziehungslegalität ist ein Strahlen, eine Quantum Lust, eine heimliche Erinnerung an etwas nicht Getanes. Das sind alles Dinge, die keinen etwas angehen, nicht mal den eigenen Mann. Manche schlagen Funken daraus, tragen sie nach Hause und entfachen ein Feuerchen auf der heimischen Matratze. Ich habe die Funken lieber ausgetreten, weil mir die falsche Hitze trügerisch vorkam. Alles Ansichtssache, aber nicht verboten.
Milla war in diesen Dingen etwas handfester. Carsten und sie führten nicht das, was andere eine offene Beziehung nennen. Dazu fehlten ihnen, wie uns auch, die Lust, die Leichtfertigkeit und die Chuzpe. Aber sie hatten beide mehr als nurzur Seite geschaut, mindestens einmal. Er wusste nichts von ihrer kurzen Affäre mit einem schönen, aber dummen Kameramann, sie sehr wohl von seinem One-Night-Stand mit der Litauerin – er hatte es ihr selbst erzählt. Die Kunde davon hatte sie keineswegs glücklich gemacht, aber sie auch nicht um den Verstand gebracht. Nach einer Phase der Wut sah Milla Carstens Ausscheren als das, was es war, eine Verzweiflungstat mit geringer Wiederholungsgefahr.
Sein Seitensprung hatte einen Vorlauf. Milla hatte schon ein Dreivierteljahr in München gewohnt und Carsten intensiv bearbeitet nachzukommen, was dazu führte, dass er sich immer mehr einigelte. Die große Liebe bekam zunehmend kleine depressive Züge. Auf ihren Reisen in ferne Länder nahmen sie sich Auszeiten von ihrer Krise und kamen beseelt zurück. In Deutschland stritten sie oder schwiegen sich an. Als Helene Milla riet, Carsten zu verlassen, hätte Milla ihr beinahe die Augen ausgekratzt. Das war ein ziemlich sicheres Zeichen dafür, dass sie längst selbst darüber nachdachte.
In jenen Tagen vor dem Seitensprung organisierte Carsten ein großes PR-Event für ein Staatsunternehmen. Das war fürchterlich anstrengend, aber nachher sehr erfolgreich. Ich weiß das, denn ich war für zwei Stunden auf der Veranstaltung. Wer nicht da war, war seine Freundin. Milla war auf Dreharbeiten nach Frankreich gefahren. Sie musste das tun. Aber so, wie er das sah, musste sie immer irgendetwas da tun, wo er nicht war.
So lenkte sich der 42-jährige Carsten im Jahr acht ihrer Beziehung mit einem Klischee von Frau ab, einer 22-jährigen Hostess litauischer Herkunft, die in Berlin Literatur studierte und seinen Anekdoten und Reiseberichten bewundernd gelauscht haben muss, als sei er der liebe Gott. Sie sah aus wie eine Meerjungfrau, nur ohne Fischschwanz. Ihr Haar floss in braungoldenen Wellen über ihren Rücken, sie hatte türkisblaueKatzenaugen, und das wissen wir, weil es im Internet Schnappschüsse von diesem PR-Event gab. Auf einem davon war Carsten
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