"Kommst du Freitag"
Liebesanfall kommt mir nur genau jetzt in den Sinn, weil ich an den Tag denke, an dem wir unsere erste Witwe geköpft haben.
Als ich in Berlin meine Korrespondentenstelle bei der Münchner Zeitung verlor und das Procedere ziemlich entwürdigend war für mich und meine Schicksalsgenossen, brachte Paul Freitagabend eine Flasche eisgekühlter „Veuve Clicquot“ mit in unser Sommerhaus. Er sagte, „darauf stoßen wir jetzt an. Auf dein neues Leben!“
An dem Flaschenkühler aus Stoff hing ein Werbeheftchen. Darin wurde berichtet, wie die Witwe Clicquot im Jahre 1805, nach dem Tod ihres Mannes, den Cuvée ihrer Kelterei zum Exportschlager machte. Sie war 28 und wurde über die Jahre hinweg zu einer beeindruckenden Geschäftsfrau. Es war eine Kopf-Hoch-Story, schön platt, aber zur rechten Zeit, am richtigen Gesöff.
Wir beschlossen, wenn es ernst wurde, immer eine „Witwe“ zu köpfen und keinen anderen Champagner sonst.
Nun ging Paul weder davon aus, dass ich sofort zu ihm zöge, noch fand er meine Arbeit bisher vernachlässigenswert. Im Gegenteil. Er wollte mir und sich einfach Mut machen, uns beiden sagen, dass es weitergehen wird, dass wir dashinkriegen und zwar nicht irgendwie, sondern vielleicht sogar besser als bisher.
Das war natürlich hart an der Realitätsverweigerung. Wir hatten uns gerade das Bauernhaus gekauft und Schulden bis zum Abwinken, aber egal: Es wirkte. Bis zu diesem Abend war es mir schlecht gegangen. Aber nach dem ersten Glas Champagner, nach dieser herrlichen Idee, die Krise dekadent zu begießen und zur Chance zu deklarieren, sie förmlich zu umarmen, fühlte ich mich stark, unverwundbar und sah der Zukunft kühn entgegen: Ich würde noch jeden Drachen töten, pah! Personalabbau! „Betriebsbedingt“! Mich baut niemand ab! Gebt mir ein Schwert!
Zunächst aber drohte der Drache Existenzangst und fauchte fürchterlich. Er spie Feuer und verbrannte ein Gutteil meines Glaubens an die Gerechtigkeit. Und manchmal schnaufte er mich noch Jahre später fies an, aus einem seiner nachgewachsenen Köpfe. Aber die waren nicht mehr so groß und furchteinflößend wie dieser erste damals.
Bevor die Kündigung in Kraft trat, mussten wir gefeuerten Redakteure noch eine Zeitlang weiterarbeiten. Das war bizarr. Denn eigentlich waren unsere Stellen als überflüssig deklariert worden. Bloß meine war nicht überflüssig. An einem Sonnabend in jenen Wochen trat überraschend der Ministerpräsident von Brandenburg zurück. Brandenburg war mein Themengebiet. Ich bekam einen schüchternen Anruf vom Nachrichtenchef der Zeitung, ob ich nicht zum Ort des Geschehens fahren könne? Trotz allem?
Da war ich längst unterwegs. Ein Freund hatte mich informiert, danach hatte ich das Radio angedreht und war, nachdem die Meldung bestätigt wurde, zu Paul in den Garten gelaufen. Er war gerade dabei, eine Schneise in das hohe Gras zwischen unseren alten Obstbäumen zu mähen, als Weg. Es roch wunderbar. Es war Juni. Wind, Wolken und Sonnenlichtspielten miteinander im blauen weiten Himmel. Unsere rare freie Zeit lief ab. Er sagte: „Was für eine Scheiße. Da musst du los, was?“
„Ja, muss ich, obwohl ich keine Ahnung habe, warum ich immer muss, muss, muss, wenn die nichts müssen!“ Ich stampfte und wütete und ruderte mit den Armen. „Die halftern mich da ab, und ich gebe sogar am Wochenende weiter die pflichtbewusste Idiotin. So, als wäre nichts.“
„Wo sie dich ja angeblich nicht brauchen. Ach, es ist zu ärgerlich! Ich darf gar nicht drüber nachdenken, sonst ...“ (Paul knurrte und dachte laut über Auftragskiller nach.) „Aber, keine Blöße geben! Du bist Profi, du machst dein Ding, und das auch ohne die. Genau darum fährst du ja hin.“ Wir wussten, dass das ein schwacher Trost war und darum eigentlich gar keiner. Der Hund sprang fröhlich um uns herum, er hatte ja keine Ahnung.
Ich hatte wie immer Notfallkleidung dabei, und so zog ich zerschlissene Jeans, Tanktop und Sandalen aus und Nadelstreifenrock, Bluse und Pumps an und fuhr dreieinhalb Stunden über Landstraßen zu diesem Provinzparteitag mitten in der Pampa, zu diesem alten Mann, der keine Lust mehr hatte, sein Land zu regieren und daraus aber noch eine Inszenierung machte.
Der Nachrichtenchef am Telefon in München fiel mit dankbaren Worten sozusagen vor mir auf die Knie, als er hörte, dass ich schon in der Spur war. Ich schrieb am Sonntag eine Nachricht für die Seite Eins, ein Feature für die Zwei und ein langen Kommentar auf der
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