kommt wie gerufen
Teerpappe zu befinden. An einem Sparren hing eine Petroleumlampe und warf verzerrte Schatten auf den Lehmboden und die primitiven Wände. Es roch nach Petroleum, Moder und feuchter Erde. Sie sah keinerlei Fenster in der Hütte, und der einzige fabrikneue Gegenstand im Raum war das Türschloß. Ihr Blick blieb an dem Chinesen hängen und als sie auch ihn angestrengt betrachtete, wußte sie, weshalb sie im Halbschlaf von Fu Man Chu gesprochen hatte. Damit allerdings erschöpfte sich die Ähnlichkeit, denn er war korrekt nach westlichem Geschmack gekleidet und sah wie ein gewissenhafter, netter Student aus.
Jetzt erst begriff Mrs. Pollifax, daß ihr die Hände mit einem Draht fest hinter dem Rücken gebunden waren und sie folgerte, daß der junge Mann doch nicht so nett war. »Wo bin ich überhaupt?« erkundigte sie sich empört.
»Das würde ich an Ihrer Stelle gar nicht erst fragen«, sagte eine Stimme hinter ihr. Es war eine männliche und eindeutig amerikanische Stimme, und Mrs. Pollifax verrenkte sich in ihrem Stuhl, um sich umzusehen, aber das gelang ihr nicht.
»Wir sind aneinander gefesselt«, erläuterte die Stimme. »Rücken an Rücken, Gelenk an Gelenk. Ich heiße übrigens Farrell. Sehr erfreut.«
»Erfreut?« sagte Mrs. Pollifax schwach.
»Nur so eine Höflichkeitsphrase von mir. Wer, zum Teufel, sind Sie überhaupt?«
Beleidigt antwortete sie: »Mrs. Virgil Pollifax aus New Brunswick, New Jersey. Hören Sie, junger Mann«, sagte sie streng zu ihrem Bewacher, »ich bin ausreichend in Erster Hilfe bewandert, um zu wissen, daß Sie mir bald die linke Hand amputieren werden müssen, wenn Sie das Blut derart abschnüren.«
Der Mann erwiderte ungerührt: »Bald Sie werden essen und Gelegenheit haben, Hände zu bewegen.«
Während er sprach, öffnete sich die Tür, und ein zweiter Mann trat ein. Mrs. Pollifax spähte hinter ihm ins Freie und sah, daß es draußen finster war. Schon Nacht! »Dann war ich den ganzen Nachmittag bewußtlos«, dachte sie betroffen. Ihr Blick fiel auf das Tablett, das der Mann trug, und da bemerkte sie, wie hungrig sie war. Der Chinese zog eine Zange aus seiner Tasche, und während er sich bückte, um ihre Fessel zu durchtrennen, betrachtete Mrs. Pollifax unverwandt die Mahlzeit, die aus verwelkt aussehenden Tortillas, zwei Scheiben trockenen, grauen Brotes und zwei Tassen Kaffee oder Suppe bestand. Ein Glück, daß sie sich durch diesen Anblick ablenken konnte, denn ihr Bewacher war nicht eben sanft.
Die Tränen schossen Mrs. Pollifax in die Augen, während er an dem Draht zerrte, und als ihre gefühllosen Hände frei waren, legte sie sie in den Schoß und versuchte zu übersehen, daß ihr das Blut ins Handinnere tropfte.
»Essen«, befahl der junge Chinese. Er und der andere Mann gingen zur Tür, sahen sich einmal nach ihnen um und verschwanden. Mrs. Pollifax hörte den Schlüssel im Schloß knirschen. Sofort drehte sie sich nach dem Mann hinter ihr um, der sie ungläubig anstarrte. »Da soll doch gleich…!« rief er, und der Mund blieb ihm offen.
»Was gibt’s?« fragte Mrs. Pollifax.
»Sie habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen. Verdammt, was haben denn Sie damit zu tun? Nein, rühren Sie den Kaffee nicht an«, warnte er hastig. »Der enthält vermutlich eine Droge.«
Mrs. Pollifax musterte ihn argwöhnisch. Seine Bemerkung über Drogen erinnerte sie daran, daß sie vor kurzem mit Señor de Gamez Tee getrunken hatte. Jetzt neigte sie Unbekannten gegenüber weniger zur Vertrauensseligkeit. Auch gefiel ihr dieser Mann keineswegs, selbst wenn er Amerikaner war. Er hatte ein hageres, fanatisches Gesicht – sehr hart, dachte sie streng, plus einer gewissen Filmschönheit, die unter einem ausschweifenden Leben gelitten hatte. Er war ein so prägnanter Typ – der richtige Weiberheld, dachte sie tadelnd –, daß er zur Karikatur reizte. Man konnte ein makelloses, sonnenbraunes Oval für das Gesicht zeichnen, es beim Kinn leicht abkanten, oben mit einem beinahe waagrechten Strich glatter, schwarzer Haare begrenzen, einen raffiniert dünnen schwarzen Schnurrbart hinzufügen, und schon hatte man Mr. Farrell – brutal, hart und in einer Welt beheimatet, von der Mrs. Pollifax wußte, daß sie sie schockieren würde. Vielleicht handelte er sogar mit Rauschgift.
»Aber warum?« fragte sie. »Wo sind wir und wer sind diese gräßlichen Leute?« Das Blut kehrte in ihre wundgescheuerten Hände zurück, und der Schmerz trieb ihr neuerlich die Tränen in die Augen. Sie
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