kommt wie gerufen
kein Mensch geht über eine Wand. Man hangelt sich mit dem Gesicht zum Fels nach unten. Dazu braucht man die Hände und die Arme, aber nicht die Beine. Kommen Sie, brechen wir auf.«
»Oh, diese unbeschwerten Frühaufsteher«, dachte Mrs. Pollifax, aber dann wurde ihr klar, daß hier nicht das Temperament, sondern das Alter ausschlaggebend war. Farrell war jünger und anpassungsfähiger.
Mrs. Pollifax fühlte sich in diesem Augenblick überwältigend müde und uralt. Ein Exekutionskommando erschien ihr als das reinste Vergnügen im Vergleich zu diesem Abstieg, selbst wenn die Wand nicht senkrecht war.
Spitz sagte sie: »Schön, und wer übernimmt die Führung? Sie oder der Dschinn?«
»Weder – noch«, erwiderte Farrell gleichmütig. »Ich muß Ihnen nämlich leider gestehen, daß ich dem Dschinn nicht traue. Wer weiß, ob er nicht mitgekommen ist, um uns zu bespitzeln. Ich spreche seine Sprache nicht und weiß nicht, was er im Wachzimmer zu General Perdido gesagt hat. Ich weiß überhaupt nichts von ihm. Also werden Sie den Anfang machen, dann kommt der Dschinn und ich bilde die Nachhut, weil ich bewaffnet bin.«
Undenkbar, lächerlich, entschied Mrs. Pollifax entrüstet. Mit zusammengebissenen Zähnen schob sie sich nach vom und ließ die Füße über die Felskante baumeln.
»Nicht so, umdrehen«, befahl Farrell unerbittlich. »Lassen Sie sich mit dem Gesicht zum Felsen vom Ast hängen und tasten Sie mit den Füßen nach einem Stützpunkt.«
»Prächtig«, sagte sie erbittert. »Wenn ich wieder daheim bin, kann ich im Zirkus auftreten.«
»Falls Sie jemals heimkommen«, sagte Farrell mit Nachdruck, und seine Worte übten eine belebende Wirkung auf sie aus. Ihre Wut machte sie tollkühn, und sie klammerte beide Hände um den Ast und ließ sich zitternd in den Abgrund hängen. Und der Abgrund war sehr tief. Farrell zischte ihr von dem Felsband Weisungen zu: »So – jetzt haben Sie es.«
Was sie hatte, wie Farrell es ausdrückte, war ein unter ihrem Fuß schüchtern hervorragender Stein, aber sie vermochte Farrells Begeisterung darüber nicht zu teilen. Sie blinzelte unter sich auf den Stein, dann tiefer ins Tal hinab, überlegte, daß von diesem Stein ihr Leben abhing und krallte sich noch entschlossener an den Ast.
»Nein, nein. Sie müssen loslassen«, sagte er.
»Der Stein trägt mich nie«, sagte sie aufsässig. »Doch, Sie müssen nur mit beiden Händen nach der kurzen kleinen Wurzel fassen, die dort oben aus dem Felsen wächst.«
»Da bleibe ich lieber bei meinem Ast, herzlichen Dank.«
»Wie viele Jahre?« fragte Farrell niederträchtig.
Er hatte nicht unrecht. Sie mußte sich für oben oder unten entscheiden, und da jede Richtung ihren gewaltsamen Tod herbeiführen konnte, war es am vernünftigsten, sie versuchte gleich den Abstieg. Mit einer Hand tastete sie nach der Wurzel, mit der anderen umklammerte sie noch immer den Ast. Dann schloß sie die Augen.
»Eins, zwei, drei… los!« hauchte sie. Sie zog die linke Hand vom Ast, ertrug heldenmütig die grauenhafte Sekunde, in der sie völlig frei im Leeren zu schweben schien, und dann hing sie mit beiden Händen an der Wurzel, und ihre Füße stemmten sich auf den darunterliegenden Stein. Vorsichtig öffnete sie die Augen und stellte fest, daß sie noch lebte. Mehr als das, ihre Lage hatte sich sprunghaft verbessert, denn statt vom Ast ins Leere zu hängen, drückte sich ihr ganzer Körper jetzt dicht an die Felswand, die eben schräg genug war, ihr ein gewisses Gefühl der Sicherheit vorzutäuschen.
Sie konnte sogar ein kleines Loch im Fels sehen, in dem ihre Hände beim nächsten Schritt Halt finden konnten. Mrs. Pollifax begann, die Technik des Bergsteigens zu erfassen.
Auf diese Weise stiegen die drei zentimeterweise ins Tal hinab.
Allmählich verfärbte sich die Felswand vom Perlgrau der Morgendämmerung zu dunklem Gold, als die Sonne sie entdeckte. Es wurde bereits verhängnisvoll hell, als sie die letzte Etappe, einen rührend leicht zu überquerenden Schuttkegel, erreichten. Hier machten sie halt, um Atem zu holen und zu sehen, wo sie waren.
Sie standen auf einer dürftigen Weide, auf der es im allgemeinen von Ziegen wimmelte, wie Mrs. Pollifax bei ihren Spaziergängen auf dem Kamm des Felsens gesehen hatte. Diese Weide lag knapp über einer anderen und dann noch einer, und jede kippte wie betrunken zum Boden des flachen, trockenen Tales. Jetzt waren keine Ziegen da, und Mrs. Pollifax ließ den Blick nach Westen schweifen und sah,
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