Konigs-Schiessen
kleine Schwester..
»Ich hol’ Wilhelm«, brüllte Papa.
Sie wusch das Kind sanft und vorsichtig, wusch die Augen aus, die Nase, den Mund, spülte das Haar über einer Schüssel, sorgfältig. Auf dem Feld war Wilhelm, auf dem Feld an der Grenze wollte er Jauche fahren.
Das Schreien stieg ihr aus dem tiefen Bauch hoch, ganz langsam, aber sie konnte es nicht halten. Sie sah ihre Hände mit dem Schwamm, die Locken zwischen ihren Fingern, und dann schrie sie, hohl und heiser.
Hans-Joachim unterbrach sein Geplapper und fing an zu weinen.
Aber sie konnte ihm nicht helfen, sie konnte nur schreien.
Sie ließ die letzte Kartoffel in den wassergefüllten Topf platschen und starrte aus dem Fenster auf den Misthaufen und die Jauchegrube mit dem schweren Betondeckel und den verrosteten Eisengriffen. Die Kleine hatte gerade laufen gelernt. Sie war immer ein kräftiges Kind gewesen. Das kräftigste von allen, ein Kind, um das man sich keine Sorgen machte. Keine Sorgen.
Mama war auch kräftig gewesen, immer stark. So ein Fieber war auch für einen kräftigen Menschen zu hoch, sagte der Doktor. Tot, alle, bloß mich läßt Gott nicht sterben. Mich nicht.,Der Herr lädt jedem soviel auf, wie er tragen kann’, sagte der Pastor.,Sei stolz, meine Tochter. Er hat dich ausgewählt, die schwersten Lasten zu tragen.’
Das nasse Zeitungspapier fiel ihr aus den zitternden Händen, und die Kartoffelschalen flogen durch die halbe Küche.
»Stolz, meine Tochter«, kicherte sie und versuchte, eine Hand an der Spüle, sich zu bücken, aber ihre Beine gehorchten nicht, und sie fand keinen rechten Halt.
Das Schreien hörte erst auf, als das Zittern anfing. Über beides hatte sie keine Kontrolle. Sie sackte zusammen, klammerte sich mit beiden Händen an die Tischkante und wimmerte. Der Junge weinte nicht mehr. Sie hörte Rufe draußen, und dann stieß Wilhelm die Tür auf.
»Guten Tag.« Der Mann stand in der offenen Tür und lächelte freundlich. Sie hatte ihn nicht klopfen hören.
»Ja?« Sie ließ die Kartoffelschalen liegen und richtete sich auf.
»Mein Name ist Toppe. Ich bin von der Kriminalpolizei.«
Toppe hatte an der Haustür lange erfolglos geschellt, war dann um die Hausecke gegangen und hatte an die Küchentür geklopft. Durch das Fenster hatte er die alte Frau gesehen.
Sie war in mehrere Lagen schwarzer Röcke, Pullover und Jacken gehüllt, und über diese Fülle hatte sie eine graugestreifte Schürze gebunden. Die Kleider starrten vor Dreck. Das fettige, vergilbte Haar war zu einem filzigen Knoten gesteckt, und am Hals und an den Ohren war der Schmutz zu braunen Streifen verkrustet. Ihre Hände zitterten heftig, und auch ihr schiefgelegter Kopf schlug ständig leicht hin und her. Aus einem Mundwinkel lief ein Speichelfaden.
»Heinrich ist tot«, sagte sie und kam ihm mit unsicheren Schritten entgegen. »Alle sind tot.« Sie streckte ihm ihre krallige Hand entgegen.
»Wer sind Sie?« fragte Toppe und gab ihr die Hand.
»Hendrina. Hendrina Verhoeven.« Sie zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor. »Setzen Sie sich.« Dann wackelte sie zum Küchenschrank, holte einen Becher heraus und stellte ihn auf den Tisch.
Toppe setzte sich.
»Was meinen Sie: alle sind tot?«
Sie gackelte nur, humpelte zum Herd und holte die große Emailkanne.
»Alle müssen wir sterben. Der Tod macht keinen Unterschied. Und er holt sich die besten zuerst, der da oben«, murmelte sie. Dabei goß sie heiße Milch in den Becher. Mehr als die Hälfte floß auf den Küchentisch, aber sie bemerkte es nicht, oder es machte ihr nichts aus.
»Zucker nehmen Sie selber. Da.«
Toppe schüttelte sich innerlich, gekochte Milch mit Zucker. Aber er gab einen Löffel voll hinein.
»Mehr«, forderte sie ihn auf. »Zucker ist gut für die Nerven.«
Dann hinkte sie wieder zum Schrank. »Löss ge ook en botteram?«
»Wie bitte?« Toppe verstand ihr Platt nicht. Sie antwortete nicht, sondern nahm ein Brot aus dem Schrank und schnitt, den Laib gegen ihre Brust gepreßt, eine dicke Scheibe ab. All ihre Bewegungen waren langsam und machten ihr Mühe.
»Ich möchte nichts essen, danke.«
Sie drehte ihm ihren Rücken zu, murmelte irgendetwas, bestrich das Brot mit Schmalz und tauchte ihre Finger in einen grauen Salztopf. Sie hatten nicht nur schwarze Trauerränder, die Nägel waren bis zur Mitte braun verkrustet. Ihr Speichel tropfte ins Salzfaß.
»Ich möchte gern mit Ihrem Mann sprechen, Frau Verhoeven. Und mit Ihrer Schwiegertochter. Wo finde ich
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