Konigs-Schiessen
Beileidsbekundungen ruhig entgegengenommen. Jetzt unterhielt sie sich und verabschiedete sich ausführlich von jedem, der schon gehen mußte.
Es war doch eine merkwürdige Sache mit der Trauer. Im Süden und Osten maß man die Trauer an der Lautstärke des Heulens und Klagens. Und hier? Man war ernst, aber man war gefaßt. Keine Tränen in der Öffentlichkeit. »Sehr tapfer, wie sie sich hält.« Wie oft hatte er das heute gehört. Tapferkeit war also die große Tugend. Mit den anderen Gefühlen war es auch nicht viel anders. Man heulte nicht in der Öffentlichkeit, man tobte nicht, man lachte nicht zu laut, man liebte sich nicht öffentlich und hassen durfte man überhaupt nicht.
Ein paar Plätze weiter links von Toppe saßen die anderen Verhoevens, Wilhelm, Peter, Ingeborg und sogar Hendrina. Irgendjemand mußte sie in die Badewanne gesteckt haben, denn sie war ziemlich sauber. Nur die Fingernägel waren immer noch krallig und schwarzgerändert. Sie trug einen altmodischen schwarzen, randlosen Hut, der mit einem dicken Gummiband unter dem Kinn festgemacht war. Vermutlich wäre er ihr sonst durch das stetige Kopfwackeln verrutscht, trotzdem sah es grotesk aus.
»Soll ich dir den Kuchen kleinschneiden, Mutter?« Ingeborg beugte sich über Hendrinas Teller.
»Wech! Kann ek eiges.« Sie schlug mit der Gabel nach Ingeborgs Hand.
Blecheweise hatte sie Streuselkuchen gebacken, blecheweise. Damals in dem elenden Winter 46. Das gute Mehl aus Holland. Was war’ aus dem Hof geworden ohne das Schmuggelgeld? Gezittert hatte sie jede Nacht, wenn Willi draußen war mit den anderen; die Telefonkette hatte sie gemacht, damit sie immer wußten, wo die Zöllner gerade waren; manchmal hatte sie auch die Lichtsignale gegeben. Aber, hatte sich doch gelohnt, die Angst. Wie feine Leute hatten sie leben können, fast wie feine Leute. Genug Geld für Vieh und Futter. Und ewig hätte das weitergehen können, ewig, wenn Peter, das verfluchte Balg, seinen Mund gehalten hätte. Konnte man doch erwarten von einem Siebenjährigen, daß er den Mund hielt. 46, da hatte sie noch Streuselkuchen gebacken..
»Komm, Mutter, ich helf dir doch lieber.«
Hendrina ließ die Arme hängen, und die Gabel klirrte auf den Boden.
Toppe trank seinen letzten Schluck Kaffee aus und ging zu Mia Verhoeven hinüber, um sich zu verabschieden. »Sagen Sie, die Familie Trappmann aus Essen, die war doch auch auf der Beerdigung?«
»Ja, die sind extra bis heute geblieben.«
»Danke. Auf Wiedersehen.«
Toppe schlenderte langsam durchs Dorf. Es war halb sechs, und keine Menschenseele war zu entdecken, nur ein dicker Kater saß auf einem Zaunpfahl und beobachtete Toppe gelangweilt. Wären nicht die paar Autos gewesen, die vereinzelt am Straßenrand parkten, man hätte glauben können, man sei in die dreißiger Jahre gesprungen oder in die zwanziger, in jede Zeit eigentlich seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts. So langsam fühlte er sich in dieser Atmosphäre ganz heimisch. Er bog um die Friedhofsecke und ging auf das gelbe Haus am Feldweg zu. Im Vorgarten stand eine Blutbuche, die mindestens zweihundert Jahre alt war und gerade die ersten Blätter abwarf.
Trappmanns waren im Aufbruch. Sie mußten nach Essen zurück; Lothar Trappmann hatte dringende Termine. Sie waren eilig, aber nicht unfreundlich; boten Toppe an, im Wohnzimmer Platz zu nehmen, was er dankend ablehnte; er hatte nur wenige Fragen.
Ja, sie hatten Heinrich Verhoeven gekannt; nicht besonders gut, sie wohnten ja noch nicht lange hier. Ein schrecklicher Todesfall, und so unglaublich. Ja, auf dem Krönungsball waren sie auch gewesen, aber schon um kurz nach elf gegangen, schließlich mußten sie um sechs Uhr aufstehen. Doch, sie waren von dem Schuß aufgewacht, hatten ihn aber mit dem Schützenfest in Verbindung gebracht und waren nicht aufgestanden; deshalb hatten sie nichts beobachten können. Ob sie sonst noch etwas gehört hätten? Nein.
» Doch, warte mal, Lothar, da war doch ein Motorengeräusch weiter unten vom Feld her, kurz nach dem Knall«, erinnerte sich Marita Trappmann. »Ja, ich bin ganz sicher.«
»Auf dem Feldweg?« fragte Toppe. »Was für ein Motorengeräusch?«
»Ja, weiter unten auf dem Feldweg. Was für ein Geräusch? Gott, ziemlich laut; ein Motorrad oder ein altes Auto, ein Lieferwagen vielleicht. Ich weiß das nicht so genau.«
Also hatte er recht gehabt. Der Täter war über den Feldweg geflohen. Und von dort aus konnte er entweder zur Landstraße gefahren sein oder aber
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