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Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie

Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie

Titel: Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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nicht darauf eingezeichnet sind. Soot! Auf der anderen Seite führt ein Karrenweg in den Wald. Stell fest, wo der hinführt! Und schau dich gut um!«
    Alle in der Gruppe nickten. Sejer wandte sich wieder der Leiche zu. Ging in die Hocke und starrte sie an. Ließ seinen Blick langsam über die Reste ihres Gesichts gleiten. Er versuchte, sich alles einzuprägen. Er versuchte, nicht zu atmen. Sie trug fremdartige, blaugrüne Kleidung. Einen dünnen langärmligen Kittel über einer dünnen weißen Hose. Der Stoff sah aus wie Seide. Er starrte aber vor allem ein schönes Schmuckstück an. Einen Silberschmuck. Über den wunderte er sich. Es war eine norwegische Trachtenbrosche. So vertraut und doch so fremd auf diesem exotischen Gewand. Weil das Gesicht zerstört war, und er keine einzelnen Züge erkennen konnte, war es schwer, ihre Herkunft zu bestimmen. Sie konnte in Norwegen geboren und aufgewachsen sein, konnte aber auch ihren ersten Besuch gemacht haben. Eine goldene Sandale war von ihrem Fuß gerutscht. Er fand im Gras ein Stöckchen und drehte den Schuh um. Unter der Sohle klebte Blut, aber er konnte drei Buchstaben erkennen. NDI. Ihre Kleidung brachten seine Gedanken auf Indien oder Pakistan. Er zog das Mobiltelefon aus der Tasche und rief auf der Wache an. Keine Frau war vermißt gemeldet worden. Noch nicht. Einige Meter von der Toten entfernt lag eine gelbe Tasche. Eine witzige Tasche aus Plüsch, geformt wie eine Banane. Sie hatte einen Reißverschluß und gehörte an einem Gürtel. Wie durch ein Wunder war sie unbeschädigt. Mit dem Stöckchen hielt er die Tasche fest am Boden und öffnete den Reißverschluß mit zwei Fingern. Lippenstift. Spiegel. Papiertaschentücher. Münzen. Sonst nichts. Weder Brieftasche noch Papiere. Nichts, was ihre Identität verraten hätte. An ihrem einen Ohr saß ein dicker Ring mit einer Kugel. Der andere war verschwunden, wenn sie zwei gehabt hatte. Die Fingernägel hatte sie blutrot lackiert. Sie trug zwei Silberringe, die nicht besonders wertvoll waren. Ihr Kittel hatte keine Tasche, aber vielleicht waren in ihre Kleidungsstücke Etiketten eingenäht. Doch er durfte nichts berühren. Sie ist die Tote, dachte er. Bis jemand anruft und nach ihr fragt. Im Radio und im Fernsehen und in allen Zeitungen heißt sie nur »die Tote«.
     
    Als er zwischen den Plastikstreifen zurückging, warf er einen Blick auf die drei Beamten, die die Wiese abschritten. Sie sahen aus wie Kinder im Gänsemarsch. Immer, wenn Skarre stehenblieb und in die Knie ging, taten die anderen es ihm nach. Er konnte Skarres durchsichtige Plastiktüte sehen, in der bereits einiges drin war. Dann steuerte er den Streifenwagen an. Die Frau, die die Leiche gefunden hatte, erwartete ihn dort. Er begrüßte sie, stieg ein und fuhr hundert Meter. Dort drehte er das Auto. Die Leute am Straßenrand starrten ihn neugierig an. Er öffnete ein Fenster, um frische Luft hereinzulassen.
    »Erzählen Sie«, sagte er kurz.
    Seine feste Stimme war für die Frau eine Hilfe. Sie nickte und schlug sich die Hand auf den Mund. Die Angst vor den Worten, die sie laut sagen mußte, brannte aus ihren Augen.
    »Soll ich alles von Anfang an erzählen?« fragte sie dann.
    »Ja, bitte«, sagte er ruhig.
    »Ich wollte Pilze sammeln. Bei Gunwalds Haus wimmelt es nur so von Täublingen. Seinetwegen kann ich sie haben, er mag nicht sammeln. Er ist oft krank«, erklärte sie. »Ich hatte einen Korb am Arm. Ich bin um kurz nach neun losgegangen.« Sie verstummte für einen Moment und sagte dann: »Ich kam aus der Richtung dort.«
    Sie zeigte auf die Straße. »Dann bin ich abgebogen und zum Waldrand hochgegangen. Alles war sehr still. Und dann sah ich auf der Wiese etwas Dunkles im Gras. Das beunruhigte mich ein wenig. Aber ich ging weiter und fing an, Pilze zu sammeln. Gunwalds Hund bellte, aber das tut er immer, wenn er jemanden hört. Ich dachte an diese dunkle Stelle. Die machte mich nervös, und deshalb kehrte ich ihr den Rücken zu. Seltsam, nicht? Als ob ich alles sofort begriffen hätte und es einfach nicht wahrhaben wollte. Ich fand viele Pilze – wo ist übrigens mein Korb?« Sie verlor den Faden und blickte Sejer verwirrt an, dann riß sie sich zusammen und redete weiter.
    »Nicht, daß die so wichtig wären. So war das nicht gemeint. Mir fiel nur gerade mein Korb ein …«
    »Den finden wir schon wieder«, sagte er leise.
    »Ich fand auch viele Pfifferlinge. Und Blaubeeren. Aber ich dachte, die kommen an einem anderen Tag an die Reihe.

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