Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
sprechen. Das findet sich schon, dachte er, verließ das Haus, ließ die Tür offen und setzte sich ins Auto.
Hvitemoen lag einen Kilometer weiter in Richtung Randskog. Auf dem Weg zum Krankenhaus kam er nicht dort vorbei, und darüber war er froh. Er hatte den Eindruck, daß mehr Menschen unterwegs waren als sonst. Ihm begegneten zwei weiße Übertragungswagen vom NRK und zwei Streifenwagen. Vor Einars Kro stand eine ganze Reihe von Autos. Zusammen mit Fahrrädern und Menschen. Er sah sich das alles erschrocken an, während er vorüberfuhr. Im Krankenhaus nahm er dann den Fahrstuhl nach oben. Er ging sofort in Maries Zimmer. Eine Krankenschwester beugte sich über das Bett. Sie erhob sich, als er das Zimmer betrat.
»Wer sind Sie?« fragte sie skeptisch.
»Gunder Jomann«, sagte er rasch. »Ich bin ihr Bruder.«
Sie beugte sich wieder über Marie. »Alles Besucher müssen sich im Stationszimmer melden, ehe sie die Krankenzimmer betreten dürfen«, sagte sie. Gunder schwieg. Schuldbewußt und verwirrt stand er vor dem Bett und drehte Däumchen. Warum war diese Frau so? Freuten sie sich nicht darüber, daß er endlich da war?
»Ich habe gestern den ganzen Tag hier gesessen«, sagte er beschämt. »Deshalb dachte ich, das sei in Ordnung.«
»Das konnte ich ja nicht wissen«, sagte sie mit einem lauen Lächeln. »Gestern hatte ich keinen Dienst.«
Er gab keine Antwort. Die Wörter ballten sich in seinem Hals zu einem dicken Klumpen zusammen. Eigentlich hatte er fragen wollen, ob eine Veränderung zu erkennen sei. Aber er spürte, daß seine Lippen bebten, und diese Frau sollte nicht sehen, daß er mit den Tränen kämpfte. Vorsichtig setzte er sich auf die Stuhlkante und faltete die Hände im Schoß. Meine Frau ist verschwunden, dachte er verzweifelt. Er hätte die Frau, die da am Bett stand und den Tropf regulierte, gern angeschrien, um ihr klarzumachen, wie schwer das alles war. Marie, seine einzige Schwester, im Koma, und Karsten in Hamburg. Und Poona wie vom Erdboden verschluckt. Andere hatte er nicht. Er wollte, daß diese Frau ging. Und nicht zurückkehrte. Lieber die, die gestern hier war, dachte er. Die mit dem freundlichen Lächeln, die ihm etwas zu trinken geholt hatte.
»Wissen Sie, daß Angehörige im Krankenhaus übernachten können?« fragte sie plötzlich.
Gunder fuhr zusammen. Ja, das war ihm mitgeteilt worden. Aber er mußte doch Poona finden. Das wollte er dieser Frau aber nicht sagen. Endlich verschwand sie. Er beugte sich über Marie. Der Schlauch in ihrem Mund gurgelte leise. Das bedeutete, daß sich darin Speichel sammelte, das hatte die andere, die Blonde, ihm erklärt. Aber wenn er klingelte, würde vielleicht die Übellaunige wieder auftauchen. Und das wollte er nicht. Er hörte einfach zu, wie das Beatmungsgerät zischend Luft in Maries Lunge blies. Er dachte, wenn dieses Gegurgel schlimmer wird, dann muß ich klingeln. Und hinnehmen, was immer passiert.
Sie hatten gesagt, er solle mit ihr reden, aber ihm fiel nichts ein. Am Vorabend hatte er sich trotz allem noch auf Poona freuen können. »Marie«, flüsterte er. Dann gab er auf und senkte den Kopf. Er wollte an die Zukunft denken. Plötzlich würde Karsten in der Tür stehen und ihm alles abnehmen. Ihm ging auf, daß über dem Bett ein Radio angebracht war. Ob er das einschalten könnte? Aber würde es Marie nicht stören? Er beugte sich vor und zog das Radio herunter. Es war mit weißem Leinen bezogen. Zuerst fand er den Knopf für die Lautstärke und stellte ihn ganz nach unten. Er hielt das Radio an sein Ohr und hörte ein leises Rauschen. Suchte, bis er einen Sender gefunden hatte, der jede Stunde Nachrichten brachte. Jetzt war es ganz kurz vor zehn. Voller Spannung wartete er, bis die Stimme die Musik unterbrach und die Nachrichten ankündigte. Hauptkommissar Konrad Sejer kann mitteilen, daß die Tote von Hvitemoen noch immer nicht identifiziert ist. Die Bevölkerung wird um Mithilfe gebeten. Die Polizei teilt weiterhin mit, daß die Frau mit einem stumpfen Gegenstand schrecklich mißhandelt worden ist, will aber keine Detail preisgeben. Von unserem Sender befragte Zeugen meinen, daß die Leiche so abscheulich zugerichtet worden ist, wie es in Norwegen bisher kaum je vorgekommen zu sein scheint. Die Polizei hat außerdem eine Sondernummer eingerichtet und bittet alle, die sich gestern nachmittag, abend und nacht in der Nähe von Hvitemoen in Elvestad aufgehalten haben, sich bei der Polizei zu melden. Alles, was in dieser
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