Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
Gegend passiert ist, gilt erst einmal als wichtig. Die Leiche wurde von einer Pilzsammlerin aus Elvestad gefunden. Dann wurde die Telefonnummer genannt. Es war eine Nummer, die man sich leicht merken konnte, und gegen seinen Willen prägte sie sich bei Gunder ein. Das Gurgeln von Maries Schlauch durchdrang seine Gedanken. Es war schlimmer geworden. Wenn er klingelte und die übellaunige Dunkle angerannt käme, würde sie sicher denken, daß er ihr Vorwürfe machen wollte. Aber es mußten doch noch andere Schwestern Dienst haben, vielleicht käme ja eine andere. Doch dann öffnete sich die Tür ganz von selber, und zu seiner Freude sah er die Blonde hereinkommen. Sie trat neben seinen Stuhl und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wir haben Ihren Schwager erreicht. Er ist jetzt auf dem Weg nach Hause.«
Gunder hätte vor Erleichterung weinen mögen. Die Schwester ging zu Maries Bett, um den Speichel aus dem Schlauch zu entfernen. Gunder erlaubte sich den Luxus, die Augen zu schließen. Endlich senkten sich seine Schultern.
»Ist gestern alles gutgegangen?« fragte die Schwester plötzlich und schaute Gunder quer über das Bett hinweg an. Er riß die Augen auf. Seine Stimme gehorchte ihm nicht.
»Sie haben Probleme erwähnt«, sagte die Frau.
»Ja, das heißt, ich weiß nicht so recht«, stammelte er.
Sie bückte sich wieder. Sie hörte aber trotzdem zu. Er hatte das Gefühl, daß sie sehr viel verstand, obwohl das doch eigentlich nicht möglich sein konnte.
»Alles wird besser, wenn Ihr Schwager erst hier ist«, sagte sie. »Dann müssen Sie nicht alles allein tragen.«
»Ja«, sagte er. »Dann wird alles besser.« Dann faßte er sich ein Herz und sah sie an. »Wird sie wieder aufwachen?« fragte er voller Jammer.
Die Schwester blickte auf Marie in ihrem Bett. Erst jetzt sah er, daß die Frau ein Namensschild trug.
»Ja, das glaube ich«, sagte Schwester Ragnhild. »Sie wird wieder aufwachen.«
IM KLAFFENDEN MUND DER FRAU
konnte Sejer drei oder vier Zähne sehen, die noch immer an ihrer ursprünglichen Stelle saßen. Was mochte der Pathologe gedacht haben, als diese zerstörte Frau vor ihn gelegt worden war?
Bardy Snorrason arbeitete schon seit vielen Jahren an diesem Stahltisch. Der Tisch hatte hohe Kanten und vorn und hinten einen Ablauf, damit Blut und Flüssigkeiten des Leichnams weggespült werden konnten. Die Leiche roch scharf und faulig. Ihre Brust und ihre Bauchhöhle waren geöffnet.
»Ich will, daß du laut denkst«, sagte Sejer und schaute den Gerichtsmediziner an.
»Was du nicht sagst.« Snorrason schob sich die Brille auf die Nasenspitze und blickte Sejer über den Rand hinweg an.
»Dieses Gesicht spricht für sich selber.«
Er drehte sich um und blätterte in einem Stapel Papier.
Dabei murmelte er vor sich hin. »Da kriegt man doch Lust, ausnahmsweise mal die Klappe zu halten.«
Sejer wäre nie auf die Idee gekommen, ihn zu bedrängen. Die Anwesenheit des Leichnams beherrschte den Raum ganz und gar. Der Schrei, den sie in ihrer letzten Minute ausgestoßen haben mußte, hallte von den Wänden wider. Er wollte seine Worte abwägen. Ihr auf seine jämmerliche Weise eine Art Respekt erweisen, als sie nun nackt auf dem Tisch lag, mit geöffneter Brust, den zerstörten Kopf im grellen Licht einer Arbeitslampe. Weil alles Blut weggespült worden war, traten ihre Verletzungen deutlicher hervor als vorhin, als er sie im Gras gesehen hatte.
»Ihre Kleidung war aus Seide«, sagte Snorrason. »Soweit ich das beurteilen kann, aus qualitativ hochwertiger Seide. Sie waren in Indien hergestellt worden. Ihre Sandalen sind aus Plastik. Die Timex-Armbanduhr ist ebenfalls von minderer Qualität. Ihre Unterwäsche war schlicht, aus Baumwolle. In ihrer Tasche hatte sie mehrere Münzen, deutsche, norwegische und indische. Unter den Sandalen steht außerdem ›Miss India‹«, schloß er diese erste Zusammenfassung.
Noch eine Pause. Die Papiere raschelten.
»Sie ist wiederholt auf den Kopf und ins Gesicht geschlagen worden«, sagte Snorrason dann.
»Läßt sich die Anzahl der Schläge feststellen?« fragte Sejer.
»Nein. Ich sage, ›wiederholt‹, weil ich sie nicht zählen kann. Aber hier ist die Rede von sehr harten Schlägen. Zwischen zehn und fünfzehn.«
Er ging zum Tisch und trat hinter den zerschmetterten Kopf der Frau.
»Der Schädel ist wie ein Krug zersprungen«, sagte er. »Seine ursprüngliche Form ist nicht mehr zu erkennen. Die Schädelknochen sind empfindlich«, fügte er hinzu.
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