Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
»Und doch ziemlich robust, wenn oben auf den Kopf geschlagen wird. Die Verletzungen werden größer, wenn Hinterkopf oder Schläfe getroffen werden. Der Täter hat sich eine gewaltige Frustration aus dem Leib geprügelt.«
»Wie alt ist sie?«
»Knapp unter vierzig.«
Das überraschte Sejer. Ihr Körper war so zart und schlank.
»Die Waffe?« fragte er.
»Die Waffe war groß und schwer, möglicherweise stumpf oder glatt, und sie wurde mit großer Kraft geführt. Ich versuche, mich und vielleicht dich damit zu trösten – denn du sieht aus, als könntest du das brauchen«, er schaute verstohlen zu Sejer hinüber, »daß ihr die meisten Schläge erst nach ihrem Tod zugefügt worden sind. Wir können über den Tod sagen, was wir wollen«, überlegte er, »aber er holt uns aus allem Elend heraus.«
Danach schwiegen sie lange. Sejer hatte das Gefühl, neben sich zu stehen, fast schon zu schweben. Er ahnte, daß eine lange Periode mit wenig Schlaf und vielen Sorgen bevorstand. Aus der es kein Entkommen geben würde. Nicht für einen Augenblick würde er diese Frau vergessen, sie würde rund um die Uhr bei ihm sein. Ihr Kopf würde ihm als stummer Schrei erscheinen. Er blickte in die Zukunft, sah den Augenblick, in dem der Täter gefunden und festgenommen sein würde. Er wußte, er würde ihm so nah sitzen, daß er seinen Geruch wahrnehmen würde, die Schwingungen, wenn sie sich im selben Raum bewegten. Er würde seine Hand nehmen. Verständnisvoll nicken. Diesem Menschen mit Freundlichkeit begegnen. Er verspürte ein leichtes Prickeln im Nacken. Snorrason ließ wieder die Papiere rascheln.
»Wie gesagt. Sie ist um die vierzig, vielleicht etwas jünger. Eins sechzig groß. Wiegt fünfundvierzig Kilo. Soweit ich das sehen kann, war sie gesund. Auf der linken Schulter hat sie eine unbedeutende Narbe, die mit vier Stichen genäht worden war. Und die Brosche stammt aus Hardanger.«
»Du bist schnell«, lobte ihn Sejer.
»Meine Assistentin hat auch so eine.« Snorrason dachte eine Weile nach. »Auf der ganzen Wiese waren Kampfspuren zu sehen. Hat er mit ihr Katz und Maus gespielt?«
»Keine Ahnung«, sagte Sejer. »Aber ich begreife nicht, wie er das wagen konnte. Um neun ist es doch noch hell. Direkt am Waldrand wohnt der Dorfkaufmann. Die Hauptstraße führt dort vorbei. Bei soviel Tollkühnheit muß ich den Täter doch fast für einen Verrückten halten. Der keinerlei Urteilsfähigkeit besitzt.«
»Sind schon irgendwelche Hinweise eingegangen?« fragte Snorrason.
»Nur zu Autos. Und im Moment will ich wirklich nur wissen, wer sie ist.«
»Du solltest dich bei den Juwelieren in der Gegend erkundigen. Die können sich sicher daran erinnern, wenn eine Ausländerin eine Brosche aus Hardanger gekauft hat. So häufig kommt das bestimmt nicht vor.«
»Sicher führen sie Buch über alle Verkäufe«, meinte Sejer. »Aber ich kann mir kaum vorstellen, daß sie sie selber gekauft hat. Ich stelle mir vor, daß es ein Geschenk von jemandem aus Norwegen war. Vielleicht von einem Mann. Und zwar von einem Mann, der sie liebt.«
»Du machst aus Wenigem viel«, Snorrason lächelte.
»Ich denke laut. Als ich sie im Gras sah, schien die Brosche fast wie eine Liebeserklärung zu funkeln.«
»Na«, sagte Snorrason. »Vielleicht hat die Liebe sich in etwas anderes verwandelt. Das hier sieht nicht gerade liebevoll aus.«
Sejer ging im Raum hin und her. »Darf ich dich daran erinnern, daß es möglich ist, aus Liebe zu töten«, sagte er.
Snorrason nickte widerwillig.
»Du rufst an, wenn du deinen Bericht fertig hast?«
»Natürlich. Diese Sache hat Priorität.«
Sejer streifte die Überschuhe ab. Später saß er zusammen mit Skarre in seinem Büro. Der Inhalt einer Plastiktüte war auf dem Schreibtisch verteilt. Sejer schob alles noch weiter auseinander.
Durchsuchte die vielen Gegenstände und fand einen Ohrring, den er sofort erkannte.
»Ihr habt wirklich gründliche Arbeit geleistet. Der Toten hat so einer gefehlt.«
»Der ist total platt gedrückt«, sagte Skarre. Dann lief er zum Waschbecken und hustete heftig.
»Laß dir nur Zeit«, sagte Sejer.
Skarre drehte sich um und sah ihn an. »Ich bin fertig«, sagte er. »Ich will arbeiten.«
TAXIFAHRER KALLE MOE
war keiner, der gern Klatsch verbreitete. Aber jetzt wurde ihm alles einfach zuviel. Er saß in seinem weißen Mercedes und dachte mit tief gefurchter Stirn über alles nach. Einige Minuten darauf stieg er die Treppe zu Einars Kro hoch. Dort war mehr los
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