Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
diesen Hyänen aus der Stadt umzugehen hatte. Er griff nach der Kanne, um seine Tasse noch einmal zu füllen.
»Hast du von Gunders Schwester gehört?«
Einar blickte ihn verständnislos an.
»Sie liegt im Krankenhaus, im Koma. Wird künstlich beatmet«, erklärte Kalle.
Einar runzelte die Stirn. »Wieso denn? Hast du mit ihm gesprochen?«
»Er hat mich angerufen. Es war ein Autounfall.«
»Ach was«, sagte Einar zögernd. »Er hat dich angerufen, um dir das zu erzählen? Soviel Kontakt habt ihr doch gar nicht.«
»Nein.« Kalle zögerte. »Aber das war so, daß Gunder Besuch aus dem Ausland erwartete. Und statt zum Flugplatz zu fahren, mußte er zu seiner Schwester ins Krankenhaus. Deshalb hat er mich angerufen. Und gefragt, ob ich nach Gardermoen fahren könnte, um diese – diesen Besuch abzuholen.«
»Ach was«, sagte Einar. Etwas lief unter seinem roten Schopf ab. Da war Kalle sich sicher. Die beiden Journalisten behielten sie im Auge. Kalle sprach so leise er konnte.
»Du weißt doch, daß Gunder in Indien war?« fragte er.
Einar nickte. »Das hat seine Schwester gesagt. Die war hier, um Zigaretten zu kaufen.«
»Aber weißt du, was er dort gemacht hat?«
»Sicher Urlaub, nehme ich an.«
»Das auch. Aber Tatsache ist, daß er da unten geheiratet hat. Eine Inderin.«
Jetzt hob Einar den Kopf. Seine Augen weiteten sich in ehrlichem Erstaunen. »Jomann? Eine Inderin?«
»Ja. Deshalb hat er mich angerufen. Weil er diese Frau erwartete. Und ich sollte sie abholen. Weil er bei seiner Schwester Wache halten mußte.«
Einar musterte Kalle bestürzt. Und Kalle konnte sich jetzt nicht mehr bremsen.
»Er hat mir alles erklärt, mit welchem Flug sie kommen würde und überhaupt. Wie sie heißt und wie sie aussieht. Er war total verzweifelt, weil er sie nicht selber abholen konnte. Also bin ich hingefahren«, Kalle schluckte und sah Einar an, »aber ich habe sie nicht gefunden.«
»Du hast sie nicht gefunden?« fragte Einar verwirrt.
»Ich habe überall gesucht, aber ich habe sie nicht gefunden.«
Jetzt starrte Einar ihn unverhohlen an. Abrupt drehte Kalle sich um. Die Journalisten behielten ihn und Einar weiterhin im Auge. Er senkte seine Stimme noch weiter.
»Also habe ich Gunder im Krankenhaus angerufen und ihm alles erzählt. Wir dachten, sie habe sicher ein anderes Taxi genommen und sei zu seinem Haus gefahren. Um dort zu warten. Sie hatte doch die Adresse. Aber da war sie auch nicht.«
Jetzt schwiegen sie lange. Einar wußte, worauf Kalle hinauswollte. Er machte ein gequältes Gesicht.
»Und dann habe ich das in den Nachrichten gehört, das mit der Toten auf Hvitemoen. Ich war außer mir. Hier in der Gegend wimmelt es ja nicht gerade von Ausländerinnen. Deshalb habe ich ihn angerufen.«
»Und was hat er gesagt?« fragte Einar eilig.
»Er klang ganz seltsam. Hat nur ausweichend geantwortet, so ungefähr: ›Die wird schon kommen‹. Ich werde den Gedanken nicht los, daß sie das sein kann. Daß jemand sie auf dem Weg zu Gunder umgebracht hat. Hvitemoen, da wohnt Gunder doch gleich in der Nähe. Nur einen Kilometer weiter.«
»Einen Kilometer dahinter«, sagte Einar. »Aber dann weißt du doch ihren Namen!«
Kalle nickte ernst.
»Du mußt die Polizei anrufen«, sagte Einar energisch.
»Ich finde, das geht nicht«, wehrte Kalle ab. »Gunder muß das selber tun. Aber ich glaube, er traut sich nicht. Er will das alles nicht wahrhaben.«
»Du mußt mit ihm reden«, sagte Einar.
»Er ist im Krankenhaus«, sagte Kalle.
»Aber was ist mit seinem Schwager?«
»Der ist in Hamburg«, sagte Kalle. Plötzlich fühlte er sich erschöpft.
»Dieses Sondertelefon«, sagte Einar. »Du kannst doch anonym anrufen.«
»Nein, wenn ich anrufe, dann nenne ich auch meinen Namen. Anrufen ist doch kein Verbrechen. Aber dann rennen die sofort zu ihm.«
»Sie finden ihn doch nicht, wenn er im Krankenhaus ist?«
»Früher oder später finden sie ihn. Und was ist, wenn ich mich irre?«
»Das wäre doch nur gut«, meinte Einar.
»Ich weiß nicht. So gut kenne ich ihn ja auch wieder nicht. Und Gunder ist so verschlossen. Sagt nicht viel. Kannst du nicht anrufen?«
Einar verdrehte die Augen. »Ich? Natürlich nicht«, sagte er abweisend. »Du hast das doch alles erlebt.«
Kalle stellte seine Tasse auf den Tresen.
»Das ist doch einfach bloß ein Anruf«, meinte Einar. »Davon geht die Welt schließlich nicht unter.«
Wieder hörten sie Lindas schrilles Lachen. Einer der Journalisten beugte sich über den
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