Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
Lindas Vorderzähne durchbrachen den weichen Schokoladenüberzug.
»Heute war er sicher überrascht«, sagte sie.
»Ach was?«
Der Händler schob sich die Brille auf die Nasenspitze.
»Heute kann er lesen, daß er gesehen worden ist. Mitten im Verbrechen sozusagen.«
Gunwald machte große Augen.
»Was sagst du da? Davon steht hier aber nichts.« Er schaute wieder in die Zeitung.
»Doch. Hier unten.« Linda beugte sich über die Kasse und zeigte auf die Stelle. »Eine wichtige Zeugenaussage ist gemacht worden. Eine Person kam auf dem Fahrrad zu einem hochinteressanten Zeitpunkt am Tatort vorbei und sah einen Mann und eine Frau auf der Wiese, auf der später das Opfer gefunden wurde. Außerdem wurde am Straßenrand ein rotes Auto gesehen.«
»Himmel«, sagte Gunwald. »Diese Aussage, kann jemand aus dem Ort sie gemacht haben?«
»Ganz bestimmt«, sagte Linda und nickte.
»Aber dann gibt es vielleicht eine Beschreibung des Täters und so. Dann kriegen sie ihn sicher. Ich sag es ja immer, trotz allem kommen nicht viele mit so was durch.«
Er las weiter. Linda aß Eis.
»Sicher hat sie etwas gesehen«, sagte sie. »Die Polizei verrät ja nicht alles. Vielleicht hat sie viel mehr gesehen, als hier steht. Die Polizei muß ihre Zeuginnen doch beschützen, stell ich mir vor.«
Sie sah Jacob in ihrem Wohnzimmer vor sich, verantwortlich für sie und ihr Leben.
Ihr lief ein wohliger Schauer über den Rücken. Gunwald schaute zu ihr hoch. »Sie? Die Zeugin?«
»Steht das nicht da?« fragte Linda unschuldig.
»Nein. Hier ist nur von einer Zeugenaussage und einer Person die Rede.«
»Hm«, sagte Linda. »Dann stand das sicher in einer anderen Zeitung.«
»Es wird schon ans Licht kommen«, sagte Gunwald. Wieder musterte er Linda und das halbgegessene Eis.
»Ich dachte, ihr jungen Damen eßt kein Eis mehr«, sagte er lachend. »Wo ihr doch immer solche Angst um eure Figur habt.«
»Ich nicht«, sagte Linda. »Solche Probleme kenn ich nicht.« Dann lief sie aus dem Laden, leckte den Eisstiel ab und stieg auf ihr Rad. Vielleicht saßen in der Kneipe ja Bekannte. Davor standen Autos. Einars Lieferwagen, wie immer, und Gørans roter Irgendwas. Sie stellte ihr Rad ab und musterte Gørans Wagen. Er war nicht groß, aber auch nicht klein. Ziemlich frisch gewaschen und mit tadellosem Lack. Und rot wie ein Feuerwehrwagen. Sie ging zum Auto und nahm es genauer in Augenschein. Auf dem linken Seitenfenster saß ein runder Aufkleber. Darauf stand ADONIS. Dann beschloß sie, es sich aus größerer Entfernung anzusehen, so wie den Wagen draußen bei Hvitemoen. Sie ging auf die andere Straßenseite zu Modes Tankstelle und starrte den Wagen an. Es konnte durchaus so einer gewesen sein. Welche Marke das nun sein mochte. Aber viele Autos sahen sich sehr ähnlich. Ihre Mutter sagte immer, daß die Autos heutzutage keinen Charakter mehr hätten. Aber das stimmte nicht ganz. Sie überquerte wieder die Straße und trat dicht vor den Wagen. Gøran fuhr einen Golf. Das wußte sie nun. Und viele hatten Aufkleber an ihren Autos. Ihre Mutter zum Beispiel hatte an ihrem Privatwagen das gelbe Emblem der Lebensrettungshubschrauber. Linda ging in die Kneipe, wo schon eine Clique saß, Gøran und Mode und Nudel und Frank. Frank hatte auch einen Spitznamen, für den Fall, daß jemand ihn hochnehmen oder mit liebevoller Ironie anreden wollte: Margits Leistung. Denn Mutter Margit hatte während der ganzen Schwangerschaft gejammert und geklagt, aus Angst vor der Niederkunft. Der Arzt hatte gesagt, das Kind sei riesig, und es hatte dann auch über sechs Kilo gewogen. Frank war noch immer riesig. Sie nickten Linda zu, sie nickte zurück. Einar war so mürrisch wie immer, so verschlossen. Sie holte sich eine Cola, ging zur Musikbox und ließ eine Krone hineinfallen. Der Apparat nahm nur die alten großen Münzen, die lagen daneben auf einem Teller und wurden immer wieder benutzt. Wenn alle in der Wurlitzer steckten, leerte Einar die Musikbox und füllte den Teller wieder. Die Münzen nahmen nie ein Ende. Ein Wunder, fand Linda. Sie las die Titel und entschied sich für »Eloise«. Als sie noch dastand, kam Gøran zu ihr. Er blieb stehen und blickte sie wütend an. Ihr fiel auf, daß sein Gesicht zerkratzt war. Rasch schlug sie die Augen nieder.
»Wieso glotzt du meine Karre an?«
Linda fuhr zusammen. Sie war nicht auf die Idee gekommen, daß jemand sie gesehen haben könnte.
»Deine Karre?« fragte sie ängstlich. »Ich hab doch nichts
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