Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
nicht?«
Kolding brauchte eine Pause. Sejer schenkte Mineralwasser ein und reichte ihm das Glas. Kolding trank und stellte das Glas auf Sejers Schreibunterlage, ungefähr auf den Panamakanal.
»Dann drehte ich mich um und fragte, wohin sie wollte. Sie zog den Reißverschluß der braunen Aktentasche auf und zog einen Zettel mit einer Adresse heraus. Einer Adresse in Elvestad. Das ist weit, sagte ich. Und sehr teuer. Dauert ungefähr anderthalb Stunden. Sie nickte und zog einige Geldscheine hervor, um zu zeigen, daß sie bezahlen konnte. Ich kenne mich da draußen nicht aus, sagte ich, wir müssen uns erkundigen. Sie sah verloren aus. Ich musterte sie im Rückspiegel, ihre Augen blickten verzweifelt. Sie wühlte immer wieder in ihrer Tasche herum, schien etwas zu suchen. Dann vertiefte sie sich in die Reste ihres Flugscheins, als ob mit dem etwas nicht stimmte. Sie wollte nicht reden. Ich versuchte es einige Male, aber sie antwortete nur einsilbig, in recht gutem Englisch. Ich kann mich an ihren langen Zopf erinnern, der lag über ihrer Schulter und fiel ihr auf den Schoß. Sie hatte ein dickes Gummiband in den Haaren, ich weiß sogar noch, daß das dünne Goldfäden hatte.«
Du bist ein Glückstreffer, dachte Sejer. Ich wünschte, du wärst mit dem Fahrrad an Hvitemoen vorbeigekommen!
Kolding hustete in seine Handfläche, schniefte und erzählte weiter: »Da draußen gibt es nicht viele Häuser, und nicht alle haben eine Hausnummer. Als wir den Ortskern schon einige Kilometer hinter uns gelassen hatten, fand ich endlich den Blindvei. Sie sah ungeheuer erleichtert aus. Ich fuhr über den Kiesweg und war ebenso erleichtert wie sie. Sie lächelte zum ersten Mal, und ich weiß noch, daß ich gedacht habe, wie schade das mit den Zähnen sei. Die standen nämlich schrecklich weit vor. Aber sonst war sie hübsch. Mit geschlossenem Mund, meine ich. Ich stieg aus dem Auto, und sie auch. Ich wollte den Koffer herausnehmen, aber sie winkte mir zu, daß ich warten sollte. Dann klingelte sie. Niemand öffnete. Sie klingelte und klingelte. Ich lief auf dem Hof hin und her und wartete. Sie wurde noch verzweifelter. Sie schien weinen zu wollen. Wissen die Leute hier, daß Sie kommen, fragte ich. Ja, sagte sie. Es muß etwas passiert sein. Something is wrong.
Sie stieg wieder ins Auto. Sagte kein Wort. Ich wußte nicht, was sie wollte, und deshalb wartete ich. Und das Taxameter lief, wir hatten schon eine ziemliche Summe beisammen. Können Sie nicht irgendwo anrufen, fragte ich, aber sie schüttelte den Kopf. Dann bat sie mich, wieder zum Ort zurückzufahren. Da sollte ich anhalten. Bei der Kneipe. Sie sagte, sie wollte da warten. Ich hob ihren Koffer aus dem Wagen, und sie gab mir das Geld. Es machte über vierzehnhundert Kronen. Sie sah total erschöpft aus. Das letzte, was ich gesehen habe, war, daß sie ihren schweren Koffer die Treppe hochschleppte. Ich fuhr auf die andere Straßenseite, um zu tanken. Dort lag eine Shell-Tankstelle. Danach fuhr ich in die Stadt zurück. Ich mußte immer an sie denken. Ich dachte daran, wie weit sie gefahren war, und daß sie am Ende vor einer verschlossenen Tür gestanden hatte. Jemand hatte sie offenbar an der Nase herumgeführt. Und das ist doch einfach gemein«, schloß Kolding. Er legte sein Portemonnaie auf den Tisch und sah Sejer an.
»Nein, sie ist nicht an der Nase herumgeführt worden. Aber der Mann, der sie am Flughafen abholen wollte, konnte nicht. Sie hat nie erfahren, warum nicht. Aber wenn sie es gewußt hätte, dann hätte sie ihm verziehen.«
Kolding musterte ihn neugierig.
»Auf dem Weg von Elvestad zum Haus – ist Ihnen da irgend etwas aufgefallen? Leute auf der Straße? Parkende Autos?«
Kolding hatte nichts gesehen. Es war nicht viel Verkehr gewesen. Auf weitere Fragen berichtete er, daß er seit zwei Jahren Taxi fuhr, verheiratet war und diesen Schreihals von drei Monaten hatte. Ansonsten konnte er einige vage Zeitangaben bestätigen.
»Sie haben getankt«, fiel Sejer jetzt ein. »Wer stand hinter der Kasse? In der Tankstelle?«
»Eine junge Frau. Blond.«
»Haben Sie sonst noch etwas gekauft?«
Kolding blickte ihn verwundert an. »Gekauft? Meinen Sie, vom Kiosk?«
»Egal, was.«
»Ich habe eine Autobatterie gekauft«, sagte Kolding schließlich.
Sejer dachte eine Weile darüber nach. »Sie haben in Elvestad eine Batterie gekauft?«
»Ja. Sie hatten ein Sonderangebot. Viel billiger als in der Stadt«, sagte Kolding.
»Und diese Batterie – wo ist die
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