Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
vergangen. Sie waren allein. Kein Geräusch, kein Anruf, keine Schritte oder Stimmen von draußen. Man hätte das riesige Gebäude für leer halten können. In Wirklichkeit brodelte es vor Leben.
»Was denken Sie über den Menschen, der das getan hat? Ich habe mir sehr viele Gedanken gemacht. Wie ist es mit Ihnen?«
Gøran schüttelte den Kopf.
»Ich denke gar nichts«, sagte er.
»Sie haben keine Vorstellung davon, was er für ein Mann ist?«
»Natürlich nicht.«
»Können wir annehmen, daß er wütend war?«
»Keine Ahnung«, sagte Gøran mürrisch. »Das herauszufinden, ist Ihre Sache.«
»Aber es liegt doch auch in Ihrem Interesse?« Wieder dieser Ernst in Sejers Gesicht. Sein Blick war fest wie eine Kameralinse. Er fuhr sich mit den Händen durch die grauen Haare und streifte das Jackett ab. Das machte er sehr langsam, sorgfältig hängte er des hinter sich über die Stuhllehne. Öffnete langsam die Manschetten und krempelte die Ärmel hoch. Gøran musterte ihn ungläubig. In der Zelle wartete ein Bett mit Decken und Kissen auf ihn. Jetzt dachte er daran.
»Vor langer Zeit bin ich durch die Straßen Streife gegangen«, sagte Sejer. »Es war in der Nacht zum Samstag. Wir waren zu zweit. Vor einer Kneipe gab es eine Prügelei. Ich stieg aus dem Wagen und lief hinüber. Zwei junge Männer, in Ihrem Alter. Ich legte dem einen die Hand auf die Schulter. Er fuhr herum und schaute mir in die Augen. Plötzlich, ohne Vorwarnung, schnellte seine Hand in der Dunkelheit hervor und ein Messer traf mich im Oberschenkel. Er verpaßte mir eine lange Wunde, ich habe noch heute eine Narbe davon.«
Gøran tat so, als höre er gar nicht zu, in Wirklichkeit jedoch lauschte er atemlos. Alle Wörter, alle unerwarteten Geschichten waren ihm willkommen, denn sie waren von dem anderen weit entfernt. Und stellten eine Art Ruheplatz dar.
»Das wollte ich nur sagen«, sagte Sejer. »Wir sehen so oft Messerstechereien im Film, wir lesen in der Zeitung darüber. Aber dann stehen wir mit einem Messer im Oberschenkel da und werden von Schmerzen überwältigt. Ich verlor meine Stimme. Alles um mich herum verschwand, sogar das Geschrei der Leute. So schrecklich war der Schmerz. Im nachhinein lache ich darüber. Eine einfache Fleischwunde. Alles, was davon noch übrig ist, ist ein heller Streifen. Aber in dem Augenblick ließ er den Rest der Welt verschwinden.«
Gøran begriff nicht, worauf der andere hinauswollte. Aus irgendeinem Grund hatte er Angst.
»Haben Sie schon einmal so einen starken Schmerz erlebt?« fragte Sejer.
Jetzt beugte er sich vor. Sein Gesicht war ganz dicht vor Gørans. Der wich ein wenig zurück.
»Natürlich nicht«, sagte Gøran. »Höchstens beim Training.«
»Sie pressen sich beim Training über die Schmerzgrenze?«
»Natürlich, die ganze Zeit. Sonst kommt man doch nicht weiter.«
»Und wo wollen Sie hin?«
Gøran sah Sejers lange Gestalt an. Sejer schwoll nirgendwo an, war aber sicher zäh. Seine Augen waren unergründlich. Sie flackerten nie. Alles, was er will, ist ein Geständnis, dachte er. Ruhig durchatmen. Bis drei zählen. Ich war bei Lillian.
Er schnellte plötzlich vor. »Wollen wir Armdrücken machen?« fragte er.
Sejer breitete die Hände aus. »Ja. Warum nicht?«
Sie machten sich bereit. Gøran war sofort soweit. Sejer überlegte, daß er Gøran anfassen, dessen Hand halten mußte. Plötzlich zögerte er.
»Kneifen Sie?« fragte Gøran grinsend.
Sejer schüttelte den Kopf. Gørans Hand war feucht und warm. Er zählte bis drei und drückte dann energisch los. Sejer versuchte nicht, Gørans Hand auf den Tisch zu pressen. Er wollte nur standhalten. Und das schaffte er. Gørans Kräfte explodierten, dann verschwanden sie. Langsam legte Sejer seine Hand auf den Tisch.
»Zuviel statisches Training. Sie dürfen die Ausdauer nicht vergessen. Denken Sie in Zukunft daran.«
Gøran zuckte mit den Schultern. Er fühlte sich nicht wohl.
»Poona hat fünfundvierzig Kilo gewogen«, teilte Sejer mit. »Mit anderen Worten, sie war nicht sehr stark. Kein Grund zum Prahlen für einen erwachsenen Mann.«
Gøran preßte die Lippen zusammen.
»Aber er prahlt sicher auch nicht damit. Ich kann ihn deutlich vor mir sehen«, sagte Sejer und starrte Gøran in die Augen. »Er kaut darauf herum. Versucht, es hinunterzuschlucken. Es in seinem Magen zu verstauen.«
Gøran fühlte sich plötzlich schwindlig.
»Essen Sie gern indisch?« fragte Sejer.
Er war ganz ernst. In seiner Stimme lag keinerlei Ironie.
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