Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
bei ihm vorbei, um seine Meinung zu hören. Als ob Søren irgend etwas wissen könnte. Aber sicher redeten sie jetzt überall, in Gunwalds Laden und Modes Tankstelle. Bald würde er auf freien Fuß gesetzt werden. Durch die Straßen gehen und die Gesichter der Leute sehen, die sich ihre Gedanken gemacht hatten. Und brachten die Zeitungen sein Bild? War das erlaubt, so lange er nicht verurteilt war? Er versuchte, sich an Gesetze und Vorschriften zu erinnern, aber er wußte es nicht mehr. Er könnte Friis fragen. Nicht, daß es eine große Rolle spielte. Elvestad war ein kleiner Ort. Pastor Berg hatte ihn getauft und konfirmiert. Plötzlich kam ihm der komische Gedanke, daß der Pastor vielleicht gerade im Pfarrhaus beim Frühstück saß. Ich bitte dich, Herr, steh Gøran in dieser Stunde der Not bei. Er fuhr zusammen, als die Tür sich öffnete.
»Gut geschlafen?«
Sejer ragte in der Tür auf.
»Ja, danke.«
»Sehr gut. Dann geht’s los.«
Er setzte sich an den Tisch. Er hatte etwas Leichtes, Unbeschwertes, obwohl er so groß war. Langgliedrig, mit breiten Schultern und scharfen Zügen. Er hatte sicher recht, wenn er behauptete, sehr gut in Form zu sein. Das sah Gøran jetzt. Läufer, dachte er, so einer, der abends die Wege entlang läuft, Kilometer um Kilometer, im gleichen Tempo. Ein zäher, ausdauernder Teufel von Mann.
»Ist der Köter wieder auf den Beinen?« fragte Gøran.
Sejer hob eine Augenbraue.
»Der Hund«, korrigierte er. »Ist der Hund auf den Beinen. Ich habe keinen Köter. Nein. Er liegt vor dem Ofen, schlaff wie ein Bärenfell.«
»Hm«, sagte Gøran brutal. »Dann müssen Sie ihn einschläfern lassen. Ein Tier darf nicht so herumliegen.«
»Das weiß ich. Aber ich schiebe es vor mir her. Denken Sie manchmal an Kairo? Daß der eines Tages eingeschläfert werden muß?«
»Das dauert noch lange.«
»Aber trotzdem. Irgendwann passiert es. Denken Sie nie an die Zukunft?«
»An die Zukunft? Nein, warum sollte ich?«
»Ich möchte, daß Sie jetzt an die Zukunft denken. Wenn Sie ein Stück in der Zeit weitergehen, was sehen Sie da?«
Gøran zuckte mit den Schultern.
»Es sieht so aus wie jetzt. Ich meine, ehe das alles passiert ist.«
Er breitete die Hände aus.
»Damit rechnen Sie?«
»Ja.«
»Aber manches hat sich sehr verändert. Diese Anklage. Diese Gespräche. Sorgen die nicht für eine Veränderung?«
»Es wird sicher hart, wieder frei zu sein. Leuten zu begegnen.«
»Wie soll Ihr Leben aussehen, wenn Sie irgendwann wieder frei sind?«
»So wie vorher.«
»Ist das möglich?«
Gøran rang die Hände.
»Kann Ihr Leben je wieder so werden wie früher?« fragte Sejer noch einmal.
»Auf jeden Fall fast.«
»Was wäre dann anders?«
»Naja, was Sie sagen. Alles, was passiert ist. Das werde ich nie vergessen.«
»Sie haben es also nicht vergessen? Erzählen Sie mir, woran Sie sich erinnern.«
Sejers Stimme war sehr tief und eigentlich ziemlich angenehm, fand Gøran, fuhr aber zurück. Öffnete den Mund, glotzte dann nur noch. Die Stille bohrte sich wie ein Speer durch die Luft, jetzt drehte sie sich langsam und zeigte auf ihn. Seine Augen flackerten.
»Es gibt nichts, woran ich mich erinnern könnte!« schrie er. Er vergaß zu atmen, bis drei zu zählen, schnappte sich eine Colaflasche und schleuderte sie an die Wand. Die Cola strömte nach unten. Sejer verzog keine Miene. »Wir hören auf, Gøran«, sagte er leise. »Sie sind zu müde.«
Er wurde in die Zelle geführt und nach zwei Stunden wieder geholt. Er fühlte sich schwer. Träge und langsam. Gleichgültig, auf eine angenehme Weise.
»Sie nehmen Ihr Training sehr genau«, sagte Sejer. »Haben Sie Ihre Gewichte im Auto bei sich? Damit Sie bei jeder Gelegenheit dazu greifen können? In einem Stau? Oder vor einer roten Ampel?«
»In Elvestad gibt es weder Ampeln noch Staus«, sagte Gøran trocken.
»Das Labor hat an ihrer Handtasche Reste von einem weißen Pulver gefunden«, sagte Sejer dann. »Was kann das wohl sein?«
Schweigen.
»Sie wissen, ihre seltsame Tasche. Grün. Geformt wie eine Melone.«
»Melone«, stammelte Gøran.
»Heroin, vielleicht. Was meinen Sie?«
»Ich bin kein Junkie«, sagte Gøran mit harter Stimme.
»Nein?«
»Ich habe alles mögliche ausprobiert. Vor langer Zeit. Aber ich bin nicht darauf abgefahren.«
»Worauf fahren Sie ab?«
Schulterzucken.
»Training, nicht wahr? Muskeln, die steinhart werden, triefender Schweiß, Schmerz in Armen und Beinen, wenn sie zu wenig Sauerstoff
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