Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
hat?«
Lange Pause. »Ich weiß, worauf Sie hinauswollen.«
»Sie waren wütend. Sind wir uns da einig?«
»Da sind wir uns einig.«
»Dann haben Sie Lillian angerufen. Und gefragt, ob Sie sie besuchen dürften.«
»Ja. Sie war einverstanden.«
»Sie sagt, daß Sie nicht gekommen sind. Ist etwas passiert?«
»Nein! Ich war bei Lillian!«
Er schnappte sich eine neue Serviette und wischte sich noch einmal den Mund.
»Haben Sie Trost gebraucht?«
Gøran schnaubte. »Ich brauche nie Trost.«
»Was brauchten Sie also?«
»Herrgott! Haben Sie denn gar keine Phantasie?«
»Sie brauchten weibliche Gesellschaft?«
Gøran glotzte ihn an und ließ sich dann über den Tisch fallen. Er lachte so herzlich, daß Sejer die Stirn runzelte.
»Jetzt müssen Sie mir erzählen, was so komisch ist. Ich komme nicht mehr mit, Gøran.«
Gøran schluckte dieses Kompliment hinunter und ahmte Sejer nach. »›Sie brauchten weibliche Gesellschaft.‹ Verdammt, in welcher Zeit sind Sie eigentlich aufgewachsen? Im Ersten Weltkrieg?«
Sejer lächelte. »Ich bin ein altmodischer Mann. Jetzt haben Sie mich entlarvt. Aber egal. Was brauchten Sie?«
»Sex«, sagte Gøran kurz und biß wieder in die Pizza.
»Und haben Sie den bekommen?«
»Das habe ich doch schon gesagt.«
»Nein. Sie haben Lillian angerufen. Sie hat gesagt, Sie könnten kommen. Jetzt gehen wir alles ganz langsam durch. Wie genau hat sie sich ausgedrückt?«
»He?« fragte Gøran.
»Können Sie sich an den genauen Wortlaut erinnern?«
»Sie hat gesagt, das sei in Ordnung.«
»Ganz einfach: ›Das ist in Ordnung‹?«
»Ja.«
»Haben Sie eine Ausländerin die Straße entlanggehen sehen, als Sie zu Lillian gefahren sind?«
»Ich habe keinen Menschen gesehen.«
»Trug sie einen Koffer?«
»Hab keinen Koffer gesehen.«
»Welche Farbe hatte der?«
»Weiß nicht. Mir ist niemand begegnet.«
»Sie hatte nur eine Handtasche? Aus rotem Stoff? Geformt wie eine Erdbeere«, sagte Sejer. »Wissen Sie das noch?«
»Nein«, sagte Gøran überrascht. Plötzlich sah er unsicher aus.
»Das haben Sie mitten in allem anderen vergessen?«
»Es gibt nichts, woran ich mich erinnern könnte«, sagte Gøran.
Er legte das Pizzastück hin.
»Sie haben es vielleicht verdrängt?«
»An so etwas würde ich mich erinnern.«
»An was denn?«
Schweigen.
»Vielleicht waren Sie weit weg, als es passiert ist. Nur Ihr Körper war dabei«, sagte Sejer.
»Der war bei Lillian. Und wie. Ich kann mich sogar an ihr Bettzeug erinnern. Es war grün, mit Seerosen. Ich kann Ihnen sagen«, sagte er offenherzig, »daß erwachsene Frauen viel besser sind als junge Mädchen. Sie öffnen sich mehr, im wahrsten Sinne des Wortes. Junge Mädchen sind so verkniffen.«
Er streifte die Schuhe ab und beförderte sie mit einem Tritt durch den Raum. Sejer schwieg und machte sich ausgiebig Notizen. Gøran schwieg. Die Stimmung war ruhig, fast friedlich. Das Licht im Zimmer ließ alle Konturen weicher werden, der Schein der Lampen sah gelber aus, je dunkler es draußen wurde. Gøran war müde, aber nicht, weil er das alles durchmachen mußte. Er war klar im Kopf. Hatte die Kontrolle. Zählte bis drei. Aber er konnte nicht trainieren. Unruhe ballte sich in ihm zusammen. Und gegen die kam er nicht an.
»Kollberg liegt zu Hause im Wohnzimmer und kann sich fast nicht bewegen«, sagte Sejer und seufzte. Er legte den Kugelschreiber beiseite. »Ich weiß nicht, ob er wieder auf die Beine kommt. Wenn nicht, muß ich ihn einschläfern lassen.«
Er schaute Gøran lange an. Gøran blieb ruhig.
»Nein«, sagte Sejer, als habe er die Gedanken seines Gegenübers gelesen. »Ich wollte das nur erwähnen. Ich bin ja im Dienst, aber trotzdem laufen meine Gedanken manchmal davon. Bisweilen wünsche ich mich weit weg von hier. Obwohl diese Arbeit mir gefällt. Hier, zusammen mit Ihnen. Wo sind Ihre Gedanken?«
»Hier«, sagte Gøran und starrte erst Sejer und dann seine Hände an.
»Haben Sie die Zeitungen gelesen?« fragte Sejer. Er schob sich ein Fisherman’s Friend in den Mund und schob Gøran dann die Tüte hin.
»Ja«, sagte Gøran.
»Und was haben Sie über den Mord gedacht?«
Gøran holte Atem. »Naja, nicht sehr viel. Daß es einfach schrecklich war, natürlich. Aber ich finde die Sportseiten interessanter.«
Sejer legte die Hände vors Gesicht und sah müde aus. In Wirklichkeit war er hellwach, doch diese kleine Geste konnte den Eindruck erwecken, daß er bald Feierabend machen würde. Sechs Stunden waren
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