Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
»Sie antworten nicht. Haben Sie das noch nie probiert?«
»Doch, ja«, Gøran zögerte. »Einmal. Aber für meinen Geschmack war es zu scharf.«
»Mm«, sagte Sejer. Er nickte zustimmend. »Man kommt sich danach vor wie ein feuerspeiender Drache.« Wieder mußte Gøran lachen. Es war schwer, diesem Mann zu folgen. Er ertappte sich dabei, daß er auf die Uhr schaute. Sein Körper war ein wenig in sich zusammengesunken.
»Wenn ich Kollberg einschläfern lassen muß, dann wird das der schwärzeste Tag in meinem Leben«, sagte Sejer. »Wirklich der schwärzeste. Ich gebe ihm noch drei oder vier Tage, dann sehen wir weiter.« Gøran war es plötzlich schlecht. Er wischte sich die Stirn. »Mir ist nicht gut«, sagte er.
IM GRUNDE WUSSTE LINDA,
daß Jacob unerreichbar war. Diese Tatsache war wie ein Dorn im Fuß, sie stach bei jedem Schritt. Zugleich hatte Linda das Gefühl, daß Jacob ihr gehörte. Er war zu ihrer Tür gekommen, hatte auf der obersten Stufe gestanden, und das Licht der Hoflampe hatte seine Locken aufleuchten lassen. Er hatte sie aus blauen Augen angesehen. Sein Blick war wie ein Strahl durch sie hindurchgejagt. Hatte sich in ihr festgemacht und war zwischen ihnen zu einer Verbindung geworden. Sie hatte das Recht, ihn aufzuheben und unter ihrem Hemd mit sich herumzutragen. Es war unmöglich, ihn mit einer anderen vor sich zu sehen. Dieses Bild konnte sie einfach nicht herstellen. Endlich konnte sie die Menschen verstehen, die aus Liebe töteten. Dieses Verständnis hatte sich langsam in ihr ausgebreitet und war groß und schwer geworden. Sie fühlte sich klug. In Gedanken sah sie, wie sie Jacob erstach. Er sackte in ihren Armen in sich zusammen und blieb blutend auf dem Boden liegen. Sie wollte bei seinem Tod dabeisein und seine letzten Worte hören. Danach würde sie für den Rest ihres Lebens sein Grab besuchen können. Mit ihm sprechen, sagen, was sie wollte, er würde nicht weglaufen können.
Sie stand aus dem Bett auf und zog sich an. Ihre Mutter war unterwegs in die Schweiz, um Schokolade zu holen. Sie schob sich zwei Kopfschmerztabletten in den Mund und spülte sie mit Wasser hinunter. Zog ihren Mantel an und nahm den Busfahrplan aus der Küchentischschublade. Stellte sich dann zum Warten an den Straßenrand. Der Bus war fast leer, bis auf sie und einen älteren Mann. In der Tasche hatte sie ein Messer. Ein Küchenmesser mit einer geriffelten Klinge. Wenn die Mutter damit Möhren schnitt, hatten die eine feine, gerillte Fläche. Sie krümmte sich auf dem Sitz zusammen und betastete den Messergriff. Ihr Wohl und Wehe hatte nicht mehr mit Schule und Job, Ehemann und Kindern oder einem eigenen Frisiersalon mit dem Geruch von Spray und Shampoo zu tun. Es ging um ihren Seelenfrieden. Den konnte ihr nur Jacob geben, tot oder lebendig, das spielte keine Rolle. Sie brauchte ihren Seelenfrieden.
Eine Stunde später fuhr Skarres Wagen langsam durch die Nedre Storgate. Er hatte keine Ahnung davon, was draußen vor sich ging, in Gedanken war er anderswo. Er fuhr an den Straßenrand und legte die Bremse ein. Blieb versunken sitzen. Fuhr zusammen, als sein Telefon die ersten Takte der Schicksalsmelodie piepte. Es war Sejer. Nach dem Gespräch grübelte Skarre weiter. Sejer hatte ihm eine seltsame Frage gestellt, auf seine eigene verlegene Weise, wenn es um Frauen ging. Stell dir vor, du kennst eine Frau, sagte er, die du in regelmäßigen Abständen besuchst. Ihr habt eine Beziehung, bei der es nicht um Liebe geht, sondern um ganz andere Dinge.
»Sex«, sagte Jacob.
»Genau. Sie ist verheiratet, und ihr haltet euer Verhältnis geheim. Du besuchst sie, wenn sie allein zu Hause ist. Stell dir eine solche Beziehung und einen solchen Besuch vor.«
»Nur zu gern«, Skarre grinste.
»Du kennst dich in ihrem Haus aus, denn du warst schon häufiger dort. Ihr endet sehr schnell in ihrem Schlafzimmer. Auch dort kennst du dich aus, kennst Möbel und Tapeten. Und dann habt ihr Sex.«
»Aber sicher«, sagte Jacob.
»Danach verläßt du das Haus und fährst nach Hause. Und jetzt kommt die Frage, Jacob. Überleg dir das gut. Würdest du dich später an ihr Bettzeug erinnern?«
Skarre saß hinter dem Lenkrad und dachte nach. Wälzte sich in allerlei Bettzeug. Er dachte an den Abend bei Hilde, nach dem Kinobesuch von »Eyes wide shut«, und an die Nachttischlampe mit dem roten Schirm. An das pflaumenblaue Bettzeug, das Laken war etwas heller als der Bettbezug, und das Kissen hatte weiße Blumen. Er dachte an
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