Konsumguerilla - Widerstand gegen Massenkultur
worüber bestimmte, grundsätzlich
zu stellende Fragen in den Hintergrund treten. Eine solche Frage wäre etwa die nach der Rolle der Industrie, die elektronische
Produkte wie Foto- und Videokameras, MP3-Player und Notebooks herstellt; aber auch die Frage nach den Motiven der BetreiberInnen
offener Plattformen: Welches Interesse haben sie an möglichst vielen NutzerInnen auf ihren Seiten? Geht es ihnen allein um
Werbeeinnahmen aus möglichst genau platzierten Anzeigen, welche sie aufgrund der nachvollziehbaren Interessen der Nutzenden
schalten können?
Eine andere Frage wäre davon ausgehend zu stellen, dass ein bedeutender Teil der nutzergenerierten Inhalte entweder den Vorgaben
oder Konventionen von professionell erzeugten Produktionen folgt oder sie gar unmittelbar verwendet, um etwa daraus eigene
animierte Musikvideos zu erstellen. Dies könnte auch dahingehend interpretiert werden, dass die Fantasie sogar noch stärker
von kommerziellen medialen Formaten vereinnahmt ist als in der analogen Vergangenheit. Oder anders gefragt: Ist die gefeierte
Demontage des kommerziell gelenkten Massenkonsums im 20. Jahrhundert durch mediale Angebote der Massen im angehenden 21. Jahrhundert
überhaupt als Fortschritt zu werten? Ist dies vielleicht nur ein weiterer Schritt in der Entwicklung der Kulturindustrie,
die Theodor Adorno und Max Horkheimer schon 1944 in der
Dialektik der Aufklärung
beschrieben? Denn in der Vergangenheit wurden die angebotenen Produkte einfach nur konsumiert, während die als fortschrittlich
geltenden
prosumer
und
pro-ams
, also auf professionellem Niveau arbeitenden Konsumenten und Amateure, diese nun leidenschaftlich imitieren. Sie können zwar
eigene Produktionen erschaffen, doch folgen diese zumeist den etablierten Schablonen, die von Professionellen erstellt wurden,
wenn sie nicht gar direkt deren kommerziell erzeugte Inhalte nutzen.
Das offenbaren beispielsweise animierte Musikvideos (AMVs), von denen YouTube im Februar 2008 auf die Suchanfrage
anime music videos
250.000 listete. AnimeMusicVideos.org, 6 das Hauptportal für AMVs, bevor sich das Genre immer stärker zu YouTube verlagerte, enthielt zur gleichen Zeit etwas mehr
als 130.000. AMVs werden von Fans erstellt, die Ausschnitte aus einer oder mehreren Zeichentrickserien zusammenschneiden |196| und mit neuer Musik unterlegen. Teilweise werden hierfür auch mitgeschnittene Szenen aus Computerspielen eingesetzt. In jüngster
Zeit werden visuelle Effekte hinzugenommen, die Videosoftware wie After Effects bereitstellt. Aber unabhängig vom verwendeten
Ausgangsmaterial und dessen Kombination geht die weit überwiegende Mehrheit der AMVs auf kommerzielle Materialien zurück.
AMV-Produzenten sehen sich stärker dem Remix verpflichtet und verstehen sich weniger als Filmemacher oder Zeichner, die bei
Null beginnen. 7
Um diese AMV-Kultur einmal näher zu analysieren, erscheinen die Begriffe Taktiken und Strategien aufschlussreich, wie sie
von Michel de Certeau in der Kunst des Handelns 1980 herausgearbeitet wurden. De Certeau unterscheidet Strategien, die er
Institutionen und Machtstrukturen zuordnet, von Taktiken, die das Handeln des Subjekts im postmodernen Alltag prägen. Mit
Taktiken versuchen die Subjekte die für sie mit strategischen Zielen eingerichteten Strukturen auf ihre Weise auszuhandeln.
Ein Beispiel dafür wäre die Stadtplanung, die mit ihrer Ausschilderung, mit Verkehrsregeln und Parkmöglichkeiten, aber auch
mit den dazugehörigen Stadtplänen Ausdruck der von Regierung und anderen einflussreichen Kräften entwickelten Strategien ist.
Die Art, wie Individuen sich nun durch die derart angelegte Stadt bewegen, Abkürzungen wählen, ziellos herumstreifen oder
einzelne Routen bevorzugen, sind dagegen Taktiken. Das Individuum ist zwar nicht in einer Position, in der es die Stadt nach
den eigenen Vorstellungen umgestalten könnte, wohl aber kann es die gegebenen Strukturen durch eigenständig gewählte Gebrauchsweisen
für sich und auf die eigenen Bedürfnisse hin anpassen und die Stadt so für sich besser bewohnbar machen. Taktiken stellen
somit einen kreativen Umgang mit gegebenen Strukturen im Hinblick auf die eigenen Bedürfnisse dar: »Der Schwache muss unaufhörlich
aus den Kräften Nutzen ziehen, die ihm fremd sind. Er macht das in günstigen Augenblicken, in denen er heterogene Elemente
kombiniert.« (de Certeau 1988: 23)
Wie de Certeau zeigt, sind alltäglich genutzte
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