Kontaktversuche
ich und die Melodie.
Ein paar Minuten brauche ich noch, ein paar Minuten für mich
allein. Ich habe ein Recht darauf. Ich will mir etwas Schönes
vorstellen, bevor ich dorthinein gehe.
… Der Mond ist aufgegangen. Es riecht nach Harz, Erde und noch
etwas – ein süßer, berauschender Duft. Ich gehe einen
Waldweg entlang, über eine dicke Schicht Kiefernnadeln. Der Pfad
windet sich, manchmal drängen sich die harzigen Stämme dicht
heran, manchmal treten sie zurück. Es ist, als ginge nicht ich
diesen Weg, sondern jemand anders, der Jahrtausende vor mir gelebt hat.
Genug. Ein letzter Blick in den Raum. Dort liegt auf dem Boden neben
dem Astrophon ein zerknülltes Stück weißes Papier. Ich
allein weiß, daß dieses Los ebenso leer ist wie die anderen
beiden. Meine letzte Rolle habe ich nicht schlecht gespielt.
Swetoslaw Slawtschew
Das Rätsel des Weißen Tals
»Hörst du? Es geht schon wieder los.«
Anthony Seelingen zog noch einmal an seiner Pfeife,
dann nahm er sie aus dem Mund und drehte den Kopf unwillig in die
Richtung, aus der das Flüstern kam. Vor dem kleinen Zelt lag
direkt auf der Erde eine Luftmatratze. Ein kräftiger blonder Mann
wälzte sich darauf schweißtriefend hin und her. Das lange
nicht mehr geschnittene Haar klebte an seinen Schläfen. Groß
und schrecklich glänzten die fiebrigen Augen, sobald er sich
aufrichtete.
»Da. Hörst du?«
Ja, Seelingen hörte es auch. Doch er klopfte
gelassen die Pfeife an seinem dreckverkrusteten Stiefel aus. Er blickte
nach oben. Das geübte Ohr des Jägers lauschte dem Leben im
unendlichen Dschungel. Riesenhaft und dunkelrot schwamm der Mond am
Horizont. Sein Licht, noch fahl von den Ausdünstungen, ließ
den Wald düster und gespenstisch erscheinen. Aus den vieltausend
Geräuschen des Waldes hörte Seelingen die heraus, die der
blonde Karlson gemeint hatte und vor denen er sich so fürchtete.
Ein dumpfer, abgehackter Ton. Zuerst selten zu vernehmen, dann immer
öfter. Seelingen kannte die Sprache des Dschungels. Irgendwo in
der Ferne sitzen um ein Feuer geschart halbnackte, dunkelhäutige
Männer. Vor einem liegt ein ausgehöhlter Baumstumpf mit
darübergespannter Haut. Der Mann trommelt mit der flachen Hand auf
die Haut, lauscht und trommelt immer schneller und schneller. Die
Stimme des Dschungels! Ihr Sinn ist allen verständlich.
»Seht ihr zwei Männer? Sie versuchen,
mit einem meiner Geheimnisse zu entkommen. Haltet sie auf! Tötet
sie!«
Seelingen schaute zu dem Kranken hinüber und nickte ihm ermunternd zu.
»Keine Angst. Die finden uns nicht.«
Und er stopfte wieder seine Pfeife. Was er eben gesagt hatte, war eine
Lüge. Seit seiner Kindheit lebte er im Dschungel am Orinoko und
wußte nur zu gut, daß sie beide verloren waren. Etwas
anderes zu sagen hätte jedoch auch keinen Zweck gehabt. Die ganze
Woche hatten sie versucht, ihre Verfolger abzuschütteln. Es hatte
Tage gegeben, an denen die boshafte Trommel kaum zu hören war, da
hatte er noch Hoffnung gehabt, daß ihnen die Flucht gelänge.
Gestern mittag jedoch erkrankte Karlson plötzlich, und damit war
alles entschieden. Nur ein Wunder konnte sie jetzt retten. Bis zur
nächsten Station am Ufer des Orinoko, wo der Hubschrauber auf sie
wartete, waren es wenigstens einhundert Meilen. Keine Aussicht auf
Rettung.
»Hör mal, Anthony«, flüsterte der Blonde,
»mit mir ist es aus. Laß mich hier liegen und hau ab. Dich
holen sie nicht ein. Du bringst die Lianen hin. Nimm die Lianen mit.
Und sage…«
»Du redest Unsinn! Bleib liegen und hör auf zu faseln. Möchtest du Wasser?«
»Hau ab. Die kommen. Ich habe Angst. Flieh! Warum sollen wir beide? Nimm die Lianen mit und sage…«
Angst. Der Recke Karlson hat Angst, Todesangst, fürchtet die
Einsamkeit vor dem Tod. Und dennoch, es gibt einen Winkel in seinem
Herzen, in den sich das Menschliche zurückgezogen hat. Dort
existiert keine Angst mehr. Alles ist aus, vorbei. Der alte Seelingen
versteht das genausogut. Aus. Finito. Karlson wird sterben. Besser
einer stirbt als beide. Doch das Leben hat ihn gelehrt: Ist der Mensch
einmal geflohen, kann er vor sich selbst nie mehr fliehen. Hol’s
der Teufel. Dann schon lieber hier bis zum Ende ausharren.
Seelingen lauschte den fernen dumpfen Klängen, und langsam kam ihm
wieder die Erinnerung an jenen Abend, als er in San-Fernando hinter
seinem Gläschen Aranjo auf der Terrasse der Schänke »Zu
den zwei Pesos« gesessen hatte. Damals hatte alles angefangen. Er
war nach einem halben Jahr Dschungelaufenthalt nach
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