Kopernikus 1
Kreuzschlüssel. Den Kreuzschlüssel zur alten Katakombe!“
Olaf kam aus dem Staunen nicht heraus. „Eine Kat a kombe, hier mitten im Moor?“
„Unter unseren Füßen! Gibt es ein sichereres Versteck?“
„Davon höre ich zum erstenmal.“
„Hat Ihr Vater nie etwas davon …?“
Nun ließ Olaf den Abt nicht ausreden. „Nie! Und ich weiß auch von keiner Reliquie. Und ich besitze keine!“ Ehrlichkeit und Trotz klangen aus seiner Stimme. In der Stille, die entstand, wurde ihm ein Zusammenhang klar. „Und Sie, Abt Ratgar, haben gar keinen Mann im Hund e fleisch mehr! Der Replikator, der meinem Vater zum Verwechseln ähnlich sah, ist nur noch Asche, Kuns t stoffasche! Stimmt’s?“
„Programmierte Molekularzündung?“
„Für die integrierte Säuberung unserer Umwelt!“
Der Abt setzte sich endlich.
„Das war Nummer zwei“, sagte Olaf wie zu sich selbst.
„Nummer zwei?“
Olaf setzte sich ebenfalls. „Ich will offen zu Ihnen sein. Die Plastikasche von Nummer eins liegt in einem Morten-Container, in einem Sarg.“
„Dann ist Ihr Vater …“
„Ich suche ihn seit dieser Toteneffigie! Helfen Sie mir, ihn zu finden. Vielleicht finden dann auch Sie, was Sie suchen.“ Olaf sprang nervös auf. „Herr Gott, müssen wir hier Blindekuh spielen?! Wenn ich mit jemandem rede, will ich ihm in die Augen schauen können!“
Der Schatten löschte seinen Schatten aus. Mit einem Male glühte ein milder Widerschein um seine Schultern. Der Abt zog die Kapuze seiner torffarbenen Kutte bis über den Scheitel hoch. Eingewebte Leuchtfaserbänder ließen sein Antlitz in einer Art überirdischem Licht e r strahlen. Ohne einen einzigen Lidschlag – wie vor wen i gen Stunden als Holo-TV-Produktion – blickten die schwarzen Augen unter den weißen Brauen Olaf r e gungslos an.
Vor diesem Ausdruck würde kein Lügner bestehen können, dachte er. Die Trickinszenierung mit der int e grierten Beleuchtung blieb dabei ohne Bedeutung.
„Einmal im Jahr“, löste sich Abt Ratgar aus seiner E r starrung, „f ä llt hier durch das schmale Ostfenster ein Sonnenstrahl und erhellt für wenige Minuten eine sonst im Dunkeln verborgene Inschrift.“
„Kennen Sie die Stelle?“ Eigentlich war diese Frage überflüssig.
„Ich kenne den Wortlaut, Doktor Nevart: Vi-tri-ol!“
„Vitriol?“
„Das erstaunt Sie?“
„Das ist ein Sammelbegriff für Säure! Als Anschrift in einer Kapelle ergibt das doch keinen Sinn.“
„Irrtum“, korrigierte ihn der Abt, „hinter jedem Buc h staben steht nämlich ein Punkt! ‚ Nicht erkannt vom E r kennenden, erkannt vom Nicht-Erkennenden ’ .“
„Der Wortlaut Ihrer Tele-Info!“
„Ich hoffte, daß Sie mich verstehen würden, Doktor. Und schlage vor: den Wortlaut der Abkürzung gegen die Reliquie, gegen unseren Kreuzschlüssel.“
Olaf bemühte sich um Fassung und einen klaren Kopf. „Aber ich schwöre beim Leben meines Vaters, daß mir diese Reliquie unbekannt ist.“
Der Abt erhob sich zu seiner ganzen Größe. „Sie schwören beim Leben Ihres Vaters?“
„Beim Leben meiner Schwester, bei meinem Auge n licht, bei was immer Sie wollen!“
Eine lastende Pause entstand. Die hellen Augen Olafs hielten dem Blick des Abtes stand.
„Gut, ich vertraue Ihnen.“
„Den Wortlaut der Inschrift. Bitte! Was verbirgt sich hinter diesem V.I.T.R.I.O.L.?“ Unwillkürlich krampfte Olaf beide Hände ineinander.
„Visita Inferiora Terrae Rectificando Invenies Occu l tum Lapi dem!“ Der Abt sah seinem Gegenüber an, daß er kein Latein verstand und übersetzte betont langsam: „S u che das Untere der Erde auf, vervollkommne es, und du wirst den verborgenen Stein finden! Nach Basilius V a lentinus, einem Gnostiker aus dem zweiten Jahrhundert. Der ‚ verborgene Stein ’ ist ein Synonym für die höhere Erkenntnis, für den Stein der Weisen sozusagen.“
„Suche das Untere der Erde auf, vervollkommne es …“, wiederholte Olaf wie in Trance. Aber sein Gehirn re a gierte hellwach.
Vaters Versuche mit synthetischer Humussäure, mit chemischen Schnellverrottern! Die Risikofaktoren bei den Endversuchen waren dem Professor natürlich b e kannt. Das hatte ihn zu einem ersten Hinweis an uns ve r anlaßt … VITRIOL, das eingemeißelte Zeichen auf der Schmucktafel seines Metglassarges. SÄURE! Das war die Lösung: Er hatte sich verätzt … sein Gesicht wurde schwarz, moorleichenschwarz . Genauso wie die Gesic h ter seiner zwei Doubles, die er dunkel eingefärbt hatte, um unauffälliger im
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