Kopernikus 1
Zuerst dachte sie, das Zimmer sei leer, bis sie ihn sah, begraben im Kokon seines Schlafsackes, der im Rahmen seines Bettes festgeschnallt war. Sie durchquerte den Raum, um sich zu vergewissern, daß er lediglich fest schlief.
In der Luft lehnte sie sich ohne die Stütze eines Han d griffes zurück und betrachtete den Schlafenden; in der Lage zu beobachten, ohne selbst beobachtet zu werden, legte sie endlich im Angesicht seines verteidigungslosen Schlafes ihren Schild ab. Endlich in der Lage, die Ve r gangenheit zu sehen: die Fehler, die gesühnt waren, die korrigierten Irrtümer, soweit als menschenmöglich. Sie hatte die Vergangenheit die Gegenwart verdrängen la s sen, bis kein Raum für ein neues Leben mehr blieb, für ein Morgen … Wen peinigte sie noch, außer sich selbst? Und warum? Wann endlich hatte sie genug gelitten …
O Gott, gibt es nur ein menschliches Wesen, das sich nicht haßt, selbst haßt (mit einem Blick auf Chaims schlafendes Gesicht), aus tiefstem Herzen? Nur indem wir am Leben sind, verraten wir uns selbst und werden verraten … Und nur wir selbst können das beenden.
Chaim wehrte sich gegen das Erwachen, der Schla f sack spannte die Halterungen, die ihn im Gleichgewicht hielten.
„Chaim.“ Ihre Stimme schüttelte ihn sanft.
Seine Augen öffneten sich, er starrte blind zur Wand.
„Chaim …“
Er wandte seinen Kopf, Körper und Schlafsack sträu b ten sich gegen sie. Der leere Ausdruck verschwand nicht von seinem Gesicht, als er ihrer Gegenwart gewahr wu r de. Schweigend sah er sie an.
„Wie geht es dir?“
Er schnitt eine Grimasse, zu ihr oder zu sich selbst, das konnte sie nicht sagen. „Ich weiß nicht.“
„Mir geht es besser.“ Sie schaute hinunter. „Besser, als es mir seit langer Zeit gegangen ist, denke ich.“
Das Nichtverstehen kehrte zurück, mit einem kühlen, widerstrebenden Ton. Und doch war irgendwo ein Flämmchen des Verstehens, das sich zu einem Feuer ausweiten konnte …
Sie atmete schwer, aus Angst, nun in der Dunkelheit allein gelassen zu werden. „Ich habe gelesen, was du in mein Buch geschrieben hast.“
Langsame Überraschung erhellte sein Gesicht. „Ja?“ Er befreite sich teilweise von dem Schlafsack.
Ein Nicken. „Wenn du einsam bist, fühlst du dich, als wärst du der einzige …“ Sie schlang ihre Hand um eine der Streben.
Sein Lachen war sanft und unerwartet. „Du bist ei n sam.“
Ihr Mund entspannte sich, sie fühlte, wie er sich zu e i nem Lächeln formte. Sie hob ihre freie Hand, um die Fremdheit ihres Gesichtes zu fühlen, die Linien des L ä chelns, die Aufgedunsenheit, die noch an ihren Kummer erinnerte. „Chaim – ich hasse mich nicht länger selbst. Zumindest nicht mehr auf dieselbe Weise, wie ich mich seit Planet Zwei gehaßt habe.“
Er zog an dem Reißverschluß seines Schlafsacks und teilte seinen Kokon. „Bedeutet das, ich kann ebenfalls aufhören, mich zu hassen?“
Sie blinzelte. „Ja … ich glaube, das bedeutet es.“
Er suchte ihre Augen, um ihre Gedanken zu lesen, und sie antwortete ihm, ohne Furcht. Er stieß sich von seinem Bett ab, ein erlöster Mann. „Also, Partner?“ Er streckte ihr seine Hand hin.
Sie nickte, nahm seine Hand und drückte sie kurz, ehe sie sie wieder losließ. Sie spürte seine Wärme in ihrer Handfläche.
Er überkreuzte seine Arme auf seinem Overall und sah hinaus zum Sternenmeer des Weltalls. „Wohin gehen wir also von hier aus?“
Ihr Griff schloß sich abrupt um den Haltegriff. „Ve r dammt! Ich bin nicht in der Lage, mich auch noch damit zu beschäftigen.“
„Früher oder später müssen wir uns aber damit befa s sen. Es ist besser, wir tun es gleich.“ Er öffnete die Rei ß verschlüsse seiner Taschen und verbarg seine Hände da r in. „Seit Generationen wird der Hauptgürtel schon mit Pinzetten abgesucht. Wir haben nicht genug Vorräte, um diese wahllose Suche durchzuhalten, bis wir mal Erfolg haben! Wir müssen uns etwas Besseres einfallen lassen.“
„Es muß doch einen Ort geben, wo noch niemand g e sucht hat, etwas, das alle übersehen haben, aus welchen Gründen auch immer. Wie diese Station auf Planet Zwei, die Sekka-Olefin gefunden hat.“ Sie drehte sich um und folgte seinen schwebenden Bewegungen. „Chaim, du bist der Prospektor; erinnerst du dich nicht an etwas Bede u tungsvolles, einen Anhaltspunkt wenigstens?“
„Da liegt das Problem – ich bin nicht so ein verdammt großer Prospektor, Mythili! Auch mein alter Herr war das nicht. Er hatte ein
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