Kopernikus 1
völliger Zufriedenheit.
Tief in der Seele spürte er die Furcht, daß jede Befriedigung, jede Errungenschaft, die die Außenwelt für ihn bringen mochte, neben der mühelosen Seligkeit, die Comarre zu bieten hatte, eitel erscheinen würde. Einen Augenblick lang hatte er eine Alptraumvision von sich selbst, wie er, alt und gebrochen, die Straße entlang heimkehrte, um Vergessenheit zu finden. Er zuckte die Achseln und verdrängte den Gedanken.
Sobald er draußen in der Ebene war, hob sich seine Stimmung schlagartig. Er schlug wieder das unbezahlbare Buch auf und blätterte in den Seiten mit dem mikroskopisch kleinen Druck, berauscht von dem Versprechen, das in ihnen lag. Vor unzähligen Jahren waren langsame Karawanen diesen Weg gezogen; sie brachten Salomon dem Weisen Gold und Elfenbein. Alle ihre Schätze verblaßten jedoch zu einem Nichts im Vergleich zu diesem einen Buch, und all die Weisheit Salomons konnte sich die neue Zivilisation nicht ausmalen, deren Samen in diesen Texten lag.
Schließlich fing Peyton zu singen an, etwas, das er sehr selten tat und worin er äußerst schlecht war. Das Lied war uralt, so alt, daß es aus der Zeit vor dem Atomzeitalter stammte, vor den Jahren der interplanetaren Raumfahrt, ja selbst vor denen der Luftfahrt. Es handelte von einem gewissen Haarkünstler von Sevilla.
Leo ertrug es schweigend, so lange er konnte. Dann stimmte auch er mit ein. Ihr Duett war kein großer Erfolg.
Beim Anbruch der Nacht waren der Wald und alle seine Geheimnisse unter dem Horizont verschwunden. Das Gesicht zu den Sternen emporgerichtet, mit Leo als Wächter an seiner Seite, schlief Peyton vorzüglich.
Dieses Mal träumte er nicht.
Jörg Liebenfels
Vitriol oder
Der Mann im Hundefleisch
„Sensationeller Moorleichenfund im Huldremoor! Wie schon gemeldet, machte ein Arbeitstrupp der Sozialisierungsvollzugsanstalt Thyrsfeld eine unheimliche Entdeckung. Unweit eines Knüppelpfades, eingeschlossen in den klumpigen Block einer rötlichen kunststoffartigen Masse, wurde in den Morgenstunden ein Toter gefunden. Die hervorragend gut erhaltene Männerleiche, in einfachem Lederzeug, nimmt eine kauernde Sitzposition ein. Da das Gesicht auf den über den Knien verschränkten Unterarmen liegt, war eine Identifizierung bislang unmöglich. Zu weiteren fachkundlichen Untersuchungen wurde der Moormann vorerst in die Laborabteilung des Huldremoor-Museums verfrachtet. Wir schalten jetzt um zu unserem Reporter vor Ort … Thyrsfeld, bitte melden.“
Die Moderatorin explodierte im Elektronenfeuerwerk der Kennmelodie; Gag und Markenzeichen dieser regionalen Nachrichten-Show.
Die Holo-Projektion verwandelte die Stirnwand des Wohnzimmers in eine Saalecke des Huldremoor-Museums. Der Reporter stand mit Olaf vor einer der dekorativen Stellwände.
Gunda, Olafs Schwester, beugte sich in ihrem Stuhl unwillkürlich vor. Die Rückenlehne paßte sich automatisch ihrer veränderten Körperlage an. Auch Ulf, der ältere ihrer beiden Brüder, wartete gespannt auf das folgende Interview. In ihrem Mini-Clan herrschte noch ein Gefühl der Familienzusammengehörigkeit, das die Menschen in den Superstädten längst verlernt und verloren hatten. Doch nach den Ereignissen der letzten Tage und Wochen klang ‚Familienzusammengehörigkeit’ etwas hochtrabend. ‚Verantwortungsgefühl füreinander’ war wohl das bessere Wort.
Der Reporter wandte sich an seine Zuschauer: „Ja, hier ist Thyrsfeld! Wir bringen Ihnen das aktuelle Kurzinterview! Mein Gesprächspartner ist Herr Doktor Olaf Nevart, Museumsleiter und Sohn des erst kürzlich verschwundenen, pardon, verstorbenen Biophysikers Professor Bert Nevart, der internationales Ansehen genoß. Herr Doktor Nevart, Sie leiteten die gesamten Bergungsarbeiten. Meine erste Frage an Sie: Unfall? Selbsttötung? Verbrechen oder Ritualmord?“
„Das sind vier Fragen auf einmal!“ kommentierte Gunda ungeduldig. Ulf brummte Unverständliches.
Olaf schien über seine Geschwister hinwegzusehen: „Darauf gibt es keine Patentantwort. Zuerst müssen wir den Untersuchungsbefund der hinzugezogenen Kripo abwarten. Ich darf aber darauf hinweisen, daß der bislang berühmteste dänische“ – er betonte das Wort ‚dänische´ – „Hominidenfund im Jahre 1950 …“
„Das war immerhin vor 57 Jahren!“ warf der Reporter ein.
„Ganz recht“, stimmte Olaf zu, „daß der Mann von Tollund ebenfalls in einer rötlichen Torfmasse aufgefunden wurde. Seiner charakteristischen Farbe wegen wird
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