Kopernikus 1
an die Frühstückstische setzte. Dennoch wollte keiner den Wortlaut der offiziellen Version versäumen.
„Guten Morgen, meine Damen und Herren! Der Mann im Hundefleisch ist verschwunden!“ Die Moderatorin genoß ihre Schlagzeile und fuhr fort: „Heute nacht wurde in das Huldremoor-Museum bei Thyrsfeld eingebrochen. Während eines Routinerundgangs sah sich der langjährige Museumsaufseher Ernst Hümmling im Labortrakt plötzlich einem Hominiden gegenüber. Der ganz und gar torffarbene Eindringling, mit vorzeitlichem Gebaren, ging sofort zum Angriff über. Ernst Hümmling, der in Kürze sechzig Jahre alt wird, erlitt einen Nervenschock. Wir schalten zu unserer Direktreportage nach Thyrsfeld um.“
Wie üblich explodierte die Moderatorin im Elektronenfeuerwerk der Kennmelodie.
Diesmal verfolgten Gunda und Ulf das Interview mit ihrem Bruder vor Ort im Huldremoor-Museum, Saal drei.
Reporter: „Herr Doktor Nevart – ich brauche Sie nicht mehr vorzustellen –, wurde der Mann im Hundefleisch möglicherweise von einem Wiedergänger befreit?“
Dr. Nevart: „Eine solche Frage läßt sich unmöglich mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten. Allen Unerklärlichkeiten zum Trotz möchte ich aber ausdrücklich vor einer Übermystifizierung der Geschehnisse warnen.“
Reporter: „Wie wurde die Moorleiche entführt?“
Dr. Nevart: „Zunächst wurde sie mit einem dolchartigen Gegenstand aus der sie umgebenden rötlichen Masse herausgeschnitten. Genaue Laboruntersuchungen des Restmaterials sind in vollem Gange.“
Reporter: „Der Hominide ist und bleibt verschwunden?“
Dr. Nevart: „Letzteres ist Spekulation. Obwohl mythologische Bezüge aus unserem historischen Bewußtsein weitestgehend gelöscht sind, möchte ich Ihnen wenigstens eine Definition über Huldre geben, die dem Moor ihren Namen gab. Huldre, das war – oder ist – ein Elfenmädchen von verführerischer Schönheit, bei dem es sich allerdings nur um eine Fassade handelt, da es innen hohl ist. Es lockt Jäger und einsame Wanderer zur Liebeslust ins Moor. Wer sich mit ihr einläßt, wird süchtig nach ihr und …“
Der Reporter manipulierte aufgeregt an seinem Ohrhörer: „Verzeihen Sie, wenn ich Sie unterbreche, Doktor Nevart, aber hier kommt gerade eine neue, eine brandheiße Nachricht herein!“
Er machte eine effektvolle Lauschpause und verkündete dann: „Meine Damen und Herren, wie ich soeben erfahre, hat einer der Männer des Bergungstrupps infolge Überanstrengung bei den gestrigen Arbeiten im Moor heute nacht einen Herzinfarkt erlitten. Jede ärztliche Hilfe kam dabei zu spät.“
Gunda murmelte: „Und das im dritten Jahrtausend.“
Der Reporter sah seine Stunde gekommen: „Ohne Vorschub zu weiteren Spekulationen leisten zu wollen, drängt sich jetzt die Frage auf: Forderte das Huldremoor für die Preisgabe eines seiner Opfer ein weiteres? Fast ist man versucht zu fragen, ob die Sumpftrolle als Tauschwert für den Mann im Hundefleisch ein neues Menschenleben nahmen. Das wäre ein hoher Tribut, wie uns scheint! Thyrsfeld, die kleine Stadt am großen Moor, die Stadt Thyrs, die Stadt des alten Gottes Thor, ist damit erneut in den Brennpunkt des allgemeinen Interesses gerückt. Herr Doktor Nevart, wie lautet Ihre Meinung dazu?“
Olaf stotterte: „Ich … ich bin ehrlich bestürzt. Ja … betroffen und bestürzt.“
Der Reporter bedankte sich für das Gespräch.
Olaf blickte geistesabwesend vor sich hin. Die Anwesenheit von Ulf und Gunda hatte er vergessen. Er stützte sich auf die Panzerglasvitrine mit archaischen Bronzedolchen. Daß eines der wertvollsten Exponate darin fehlte, drang nicht in sein Bewußtsein. Noch nicht.
Gunda und Ulf saßen auf der oberen Plattform eines der am Ufer vertäuten Arbeitspontons des Forschungsinstituts, das dem Moor-Museum angeschlossen war. Der Wind kräuselte das schwarze Wasser und fing sich im nahen Schilfgürtel. Die Sonne schwamm bleich in einem diesigen Himmel. Von dem etwa einen halben Kilometer entfernt stehenden sechseckigen Hangar drang von Zeit zu Zeit das Turbinengeheul eines der Luftkissenboote, die unter der Kuppelüberdachung gewartet oder überholt wurden, zur Plattform herüber. Ulf merkte von alledem kaum etwas. Er war in seine Überlegungen vertieft. Am Anfang seiner Gedankenkette stand Gundas Frage nach der Anzahl der Replikatoren, die er Vater seinerzeit zu Experimentierzwecken zur Verfügung gestellt hatte.
Es waren vier. Genauer gesagt, zwei Kunststoffdoubles
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