Kopernikus 3
fortgeschrittenen Verfallsstadium. Bei Agneta Rautavaara dagegen konnte noch eine minimale Gehirntätigkeit festgestellt werden. Daher unternahm der Roboter im Fall Rautavaara den Versuch einer Wiederbelebung. Da er diesbezügliche Entscheidungen aber nicht selbst treffen konnte, benachrichtigte er uns. Wir befahlen ihm, den Versuch zu wagen. Der Fehler – die Schuld, wenn man so will – lag also bei uns. Wären wir persönlich anwesend gewesen, dann hätten wir die Situation selbstverständlich richtig eingeschätzt. Wir nehmen den Tadel auf uns.
Eine Stunde später meldete der Roboter, daß er die wesentlichen Gehirnfunktionen Agneta Rautavaaras wiederhergestellt habe, indem er ihr Gehirn mit sauerstoffangereichertem Blut aus ihrem toten Körper versorgte. Dabei stammte nur der Sauerstoff selbst von dem Roboter, keinesfalls aber die Nährstoffe. Wir wiesen ihn an, mit der Synthese von Nährstoffen zu beginnen und dabei Rautavaaras Körper als Rohmaterial zu verwenden. Gegen diese Entscheidung richtete sich später der Hauptvorwurf der irdischen Behörden. Aber eine andere Nährstoffquelle hatten wir nicht. Da wir selbst Plasma sind, konnten wir keinen unserer eigenen Körper zur Verfügung stellen.
Sie warfen uns vor, daß wir die Körper der beiden toten Männer hätten heranziehen können. Aber wir waren der Ansicht, gestützt auf den Bericht des Roboters, die beiden Leichen seien schon zu weit verwest und zu sehr durch Radioaktivität kontaminiert, daher also toxisch für Rautavaara; Nährstoffe, die aus solchen Körpern gewonnen wurden, hätten ihr Gehirn binnen kürzester Zeit vergiften können. Es kümmert uns nicht, ob sie unsere Logik akzeptieren, so zumindest erschien uns die Situation in unserem weit entfernten Beobachtungsposten. Daher sagte ich zuvor, unser größter Fehler war das Aussenden eines Roboters, wo wir uns persönlich um den Fall hätten kümmern müssen. Wenn man uns einen Vorwurf machen kann, dann diesen.
Wir befahlen dem Roboter, sich mit Rautavaaras Gehirn zu koppeln, damit wir danach über ihn ihre Gedanken empfangen und uns auf diese Weise ein Bild vom Zustand ihrer Gehirnzellen machen konnten.
Der gewonnene Eindruck ließ uns hoffen. Erst danach informierten wir die irdischen Behörden. Wir meldeten den Unfall, der zur Zerstörung von EX 208 geführt hatte; weiter berichteten wir vom Tod der beiden männlichen Besatzungsmitglieder und von unseren Bemühungen, das weibliche Wesen am Leben zu erhalten, sowie von der stabilen cephalischen Aktivität – mit anderen Worten, wir meldeten, daß wir ihr Gehirn am Leben erhalten hatten.
„Ihr was ?“ fragte der irdische Funker, der unseren Ruf empfangen hatte, ungläubig.
„Wir versorgen sie mit Nährstoffen, die wir aus ihrem Körper gewinnen …“
„Großer Gott“, sagte der irdische Funker. „Ihr dürft ihr Gehirn nicht auf diese Art versorgen. Was nützt denn schon ein Gehirn allein?“
„Es kann denken“, antworteten wir.
„Schon gut. Lassen wir es vorerst dabei“, meinte der irdische Funker. „Aber die Sache wird ein Nachspiel haben.“
„War es falsch, ihr Gehirn zu retten?“ fragten wir. „Schließlich ist die Psyche doch ausschließlich im Gehirn lokalisiert. Der physische Körper ist lediglich eine Einrichtung, mittels derer das Gehirn …“
„Geben Sie mir die Position von EX 208“, sagte der irdische Funker. „Wir werden unverzüglich ein Schiff dorthin entsenden. Sie hätten uns schon vor den Bergungsversuchen benachrichtigen müssen. Ihr Approximationen versteht einfach nichts von somatischen Lebensformen.“
Der Ausdruck Approximationen ist in unseren Augen eine Beleidigung. Es ist ein irdisches Schimpfwort, das auf unsere Heimat, das System Proxima Centauri, anspielt. Es impliziert, daß wir keine authentischen Lebensformen sind, sondern lediglich simuliertes Leben.
Das also war unsere Belohnung im Fall Rautavaara. Wir wurden verspottet. Und die Sache hatte tatsächlich ein Nachspiel.
In den Tiefen ihres beschädigten Gehirns nahm Agneta Rautavaara ätzende Säure wahr, und sie zog sich aufgeschreckt zurück. Um sie herum lagen die Trümmer von EX 208. Sie konnte Travis und Elms sehen; die beiden Männer waren zu blutigen Fetzen zerrissen worden, das Blut selbst war gefroren. Eine Eisschicht bedeckte das Innere der Kugel. Luft weg, Temperatur weg … Was also hält mich am Leben? fragte sie sich. Sie hob die Hände und berührte ihr Gesicht – oder besser, sie wollte ihr Gesicht
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