Kopernikus 8
Stirnlocke verbirgt die Narbe an dessen Ursprung, das silberne Haar erwächst aus ihren Schultern und dem Rückgrat und fällt anmutig herab. Ihr Körper ist schlank und hellgrau, Sprenkel verlaufen entlang ihren Flanken. Das Haar ihrer Schwanzspitze ist fast schwarz. Lange Zeit dachte ich, ein Chirurg hätte einen Fehler gemacht oder ihr einen Streich gespielt, doch schließlich verstand ich, weshalb das so war, als ich aus der Ferne beobachtete, wie sie katzengleich mit dem langen Schwanz wedelte. Mein Körper besitzt nicht diese artistische Originalität. Ich hasse alles an mir fast ebensosehr, wie ich alles an Elfleda liebe.
Sie spricht nur aus der Ferne zu mir. Ich glaube, sie will mich quälen. Wenn die Meister unseren Park besuchen, beobachtet sie sie, peitscht mit dem Schwanz und galoppiert weg. Manchmal gönnt sie ihnen auch den Vorzug eines flüchtigen Blickes auf ihr silbernes Fell. Ihre Unzugänglichkeit macht sie zur Gesuchtesten von uns allen. Sie folgen ihr, sie rufen nach ihr, doch nur wenige dürfen sie berühren. Sie ist die einzige von uns, die sich ihrem Willen widersetzen kann. Doch auch diese Freiheit war ihre Schöpfung – sie sind so mächtig, daß sie es sich leisten können, mit der Illusion von Trotz zu spielen.
Doch der Rest von uns, die anderen Zentauren, Satyre, Nymphen und Meeresbewohner, wir eilen über die Wiesen, warten im Wald oder laufen gar auf Besucher zu, damit man Notiz von uns nimmt.
Uns zu beschweren wagen wir nicht. Das sollten wir auch nicht tun, im Gegenteil, wir sollten dankbar sein. Man hat uns die Leben gerettet. Jeder von uns wäre gestorben, hätten die Meister uns nicht akzeptiert und aufgenommen. Wir verdanken ihnen unser Leben, und das ist die Währung, in der wir in ihrer Schuld stehen. Manchmal scheint mir dieser Preis zu hoch, doch nichts hält mich davon ab, von einem Berghang herabzuspringen oder giftige Blumen zu essen. Ich lebe immer noch.
Die Nachmittagssonne auf der Wiese ist warm, daher gehe ich durch das hohe Gras auf den Wald zu. Ein kleines Geschöpf flieht von seiner Schlaf statt, es ist ebenso überrascht durch meine Anwesenheit wie ich durch seine. Es erhebt sich galoppierend in die Lüfte: ein kleiner Pegasus. Im Vergleich zu seinem Körper wirken seine gefiederten Schwingen überproportioniert. Doch das ist eigentlich der Grund, weshalb ein Pegasus überhaupt fliegen kann. Bei diesem handelt es sich um ein winziges Scheckenpony, das mir kaum bis zum Knie reicht. Er überfliegt die Hälfte der Wiese, dann läßt er sich wieder auf die Erde nieder und trottet davon, während er seine Schwingen zusammenfaltet. Die größeren Pegasi, etwa in meiner Größe, sind spektakulär, doch sie sind an die Erde gefesselt. Sie suchen den Flug und können ihn doch niemals finden. Einst beobachtete ich einen, der mit ausgestrecktem Nacken, bebenden Nüstern und hoch erhobenem Schwanz im Wind stand und rannte und galoppierte, doch seine Schwingen waren nicht groß genug, ihn vom Boden zu tragen. Unsere Meister bedienen sich ihrer Tiere so, wie sie sich auch uns Halbmenschen bedienen – zur Ablenkung und um der Schönheit willen. Ihnen kommt es nicht in den Sinn, daß das Herz eines fliegenden Pferdes brechen kann, wenn es ihm unmöglich ist zu fliegen.
Der Schatten des Waldes umfängt mich mit dem kühlen Aroma von Pinien und Humus. Der Boden unter meinen Hufen ist weich. Ich spüre seinen Widerstand, aber nicht seine Beschaffenheit. Als ich mich zum erstenmal nach der Operation, den Schmerzen und der Heilung erhob, hatte ich kaum richtig gehen können. Ich strauchelte und fiel, und mir wurden schwere Strafen angedroht, sollte ich mein helles Seidenfell verunstalten. Danach ging ich langsamer und lernte rasch. Menschenwesen sind nicht
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