Kopf frei
verlor.
Es werden auch viele Geschichten erzählt, damit es nicht so still ist.
Oder sie werden erzählt, um sich im eigenen Ich zu baden, was nichts mit Ichstärke zu tun hat.
Außerdem gibt es noch viele Einzelmotive:
Wenn ich immer wieder erzähle, wie viel Leid ich im Leben hatte, dann will ich Mitleid erregen. Wenn ich erzähle, dass ich Queen Elisabeths Hand geschüttelt habe, dann will ich mich vielleicht wichtig machen. Wenn ich sage, was ich im Leben gut gemeistert habe, dann will ich Applaus und Anerkennung. Wenn ich erzähle, dass ich einen Schönheitswettbewerb gewonnen habe, dann will ich meinen Selbstwert aufmotzen.
Taucht eine Geschichte reflexhaft auf, so heißt das ja noch nicht, dass ich sie erzähle.
Das wäre wünschenswert. Dann hätten Sie den Automatismus im Griff. Aber wenn Sie eines Tages merken, dass Sie eine bestimmte Geschichte gerade zum 800sten Mal erzählen, dann hat der Automatismus Sie im Griff.
Die Stille ist doch unangenehm, dann ist es doch logisch, dass ich was erzähle!
Sie könnten auch über etwas anderes sprechen, aber das hieße, dass Sie noch mal nachspüren müssten. Die Geschichte ist automatisch schnell da. Und wir können uns fragen: Will ich meinem Gegenüber wirklich begegnen oder will ich nur Geschichten austauschen?
Ist das nicht weit hergeholt? Kann es nicht sein, dass zum Beispiel Gerda einfach nur eine bestimmte Geschichte erzählen will?
Was wissen wir über Gerda? Nur sie selbst kann ihre Motive erforschen. Nur sie selbst kann sich klarmachen, ob sie echten Kontakt haben will, ob sie in der Gegenwart oder im Wiederkäuen ihrer Geschichten leben will.
Was soll man sich dann erzählen, wenn man keine Geschichten erzählt? Mit den Geschichten reproduzieren Sie etwas aus Ihrer Vergangenheit und erzählen sich selber nichts Neues, weil Sie ja Ihre Geschichten kennen. Von daher ließe sich infrage stellen, was denn überhaupt der Reiz am Geschichten-Erzählen ist. Sie scheinen ja richtig Angst zu haben, dass ich Ihnen Ihre Geschichten wegnehme. Wenn es gelänge, die Geschichten zugunsten von Nichtreproduziertem wegfallen zu lassen, wird es interessanter und lebendiger. Das merken Sie auch an Ihrem Gegenüber. Eine gute Alternative zu aufgewärmten Storys wäre zum Beispiel ein Fachgespräch oder eine Fantasiegeschichte.
Aber ich will nicht spaßige, sondern ernste Gespräche führen!
Ich verstehe Sie gut. Wenn wir einen Automatismus verlassen, zum Beispiel den des reflexhaften Geschichten-Erzählens, dann gehen wir durch eine Phase milder »Verhaltensgestörtheit«, die Ihnen künstlich und unangenehm scheint. Aber Sie machen das für einen Gewinn! Probieren Sie’s doch eine Woche lang aus und entscheiden dann, ob sich’s gelohnt hat. Gegenfrage: Kennen Sie Situationen, in denen Sie mit Geschichten überschüttet werden?
Ja. Und das stört mich. Ich wünsche mir ernsthafte Diskussionen.
Das heißt, es geht Ihnen um Dialog?
Ja, genau. Meine Geschichten formen meine Persönlichkeit, und ich will mich dem anderen doch wirklich zeigen.
Das Ziel ist großartig, und der Weg könnte noch gesteigert werden. Denn das wirkliche Zeigen gelingt eher, wenn Sie, wie oben besprochen, die individuellen Motive für das Geschichten-Erzählen transparent machen. Das gelingt besser als durch das Geschichten-Erzählen selbst.
Aber dann stelle ich mich schwach auf und mein Gegenüber kann doch an der Schwäche nicht interessiert sein. Schwäche ist nicht gesellschaftsfähig!
Sie fassen unsere heutige Situation brillant zusammen: dass als Stärke gilt, eine Angeberstory vom Stapel zu lassen, und als Schwäche, sich selber transparent zu machen. Fragen wir einfach, was erfordert mehr Mut, die Angebergeschichte oder die Offenlegung seiner selbst? Die Antwort ist offenbar und zeigt, dass unsere Standardetikettierungen von schwach und stark genau verkehrt herum gebraucht werden. Natürlich lockt die nächste Falle an dieser Stelle, nämlich in exhibitionistischen, emotionalen Aufwallungen sich als Dramaqueen oder -king in eigenen Schwächen zu suhlen und so sein Gegenüber zu missbrauchen und ihm Energie abzuzocken.
Aber was denkt der andere von mir, wenn ich keine Geschichten erzähle? Ihre Frage zeigt, dass Sie denken, der andere interessierte sich für Sie. Und dann hängen Sie obendrein einen Selbstaufruf an diese Unterstellung, indem Sie sich sagen, vielleicht denkt er schlecht von mir, wenn ich keine Geschichten erzähle. Vielleicht
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