Kopf in der Schlinge
schob den unteren Teil des Fensters hoch. Eisige Luft strömte durch die Lücke, die das Sturmfenster hinterlassen hatte, das nach wie vor einen Meter tiefer in den Büschen lag.
Ich starrte auf den Teil der Straße hinaus, den ich überblicken konnte. Ein Wagen fuhr langsam vorüber, und ich trat ins Zimmer zurück, während ich mich fragte, ob die Insassen mich hatten sehen können. Ich haßte es, in Nota Lake zu sein. Ich haßte es, Außenseiterin zu sein, die Zielscheibe für Dorfklatsch, der meine Handlungen verzerrt darstellte. Und ich haßte meine Vermutungen. Der Gedanke an eine Uniform löste bei mir mittlerweile einen Speichelfluß wie bei einem Hund aus, der einer merkwürdigen Form Pawlowscher Konditionierung unterworfen worden ist. Waren Abzeichen und Schlagstock einst Symbole persönlicher Sicherheit gewesen, stellte ich nun fest, daß mich ihr Anblick erzittern ließ, als hätte man mir Elektroschocks verpaßt. Wenn ich damit recht hatte, daß der Kerl in Verbindung zu den Polizeibehörden stand, dann hatte er die Obrigkeit auf seiner Seite, und was war ich? Ein kleines Würstchen von Privatdetektivin mit einem pedantischen Gerechtigkeitssinn. Mißverhältnis war gar kein Ausdruck dafür.
Warum konnte ich nicht einfach in mein Auto steigen und noch heute nacht nach Hause rasen? Ich sehnte mich nach einem Ort, wo es Menschen gab, die mich gern hatten. Einen Moment lang war der Sog überwältigend. Wenn ich binnen einer Stunde abreiste, könnte ich um vier Uhr morgens in Santa Teresa sein. Ich sah meine gemütliche Bett-Plattform mit ihrer blau-weißen Daunendecke vor mir, von wo aus ich durch das Oberlicht aus Plexiglas die Sterne sehen konnte. Bestimmt wäre der Himmel dort klar, und die Luft duftete nach dem Pazifik, der ganz in der Nähe toste. Ich malte mir den Morgen aus. Henry würde Zimtschnecken backen, und wir würden gemeinsam frühstücken. Später könnte ich ihm im Garten helfen, wo er vor seinen Blumenbeeten knien würde, während seine bleichen Fußsohlen aussahen wie etwas, das man in Gips gegossen hat. Ich trat vom Fenster zurück und brach den Bann. Die einzige Straße nach Hause führt durch den Wald, dachte ich.
Binnen Minuten hatte ich mich ausgezogen und war in das übergroße T-Shirt geschlüpft, das ich als Nachthemd benutzte. Normalerweise schlafe ich nackt, aber im Haus von jemand anderem sollte man vorbereitet sein, falls es brennt. Ich wusch mir das Gesicht und putzte mir unter den gewohnten Schwierigkeiten die Zähne. Dann kehrte ich ins Zimmer zurück und ging ruhelos auf und ab. Die Bücherregale standen voller Nippes. Es war keine einzige Illustrierte zu entdecken, und ich hatte diesmal vergessen, ein Buch mitzubringen. Zum Schlafen war ich zu aufgedreht. Ich holte meine Unterlagen aus der Reisetasche und ging ins Bett. Ich drehte die Leselampe so, daß ich meine getippten Notizen durchsehen konnte. Der einzige Punkt, der mir ins Auge fiel, war James Tennysons Erwähnung einer Frau, die an dem Abend, als Tom starb, die Straße entlangmarschiert war. Seinem Bericht zufolge war sie aus der Richtung von Toms Wagen gekommen und in den Wald abgebogen, als sie seinen Streifenwagen sah. Hatte er gelogen? Hatte er die Frau erfunden, um mich auf eine falsche Spur zu locken? Er war mir nicht unehrlich vorgekommen, aber die Folgerung daraus wäre interessant gewesen, denn das hieße, daß Tom in Gesellschaft dieser Frau war, als er seinen tödlichen Herzinfarkt erlitt. Ich fragte mich, was für eine Frau davongegangen wäre und ihn allein mit dem Tod hätte ringen lassen. Vielleicht eine, die es sich nicht leisten konnte, mit ihm zusammen gesehen zu werden. Nach allem, was ich über ihn wußte, glaubte ich nicht, daß er eine Affäre gehabt hatte. Also warum mußte die Frau — falls es sie gab — ihre Identität geheimhalten? Ich wußte auch, daß Tom zu ungewohnter Stunde im Rainbow Café gewesen war.
Das Interessante war, daß James mir von dieser angeblichen Frau als Nachsatz zu seinen ersten Angaben erzählt hatte. Normalerweise bin ich gegenüber weiteren Ausführungen skeptisch. Berichte von Augenzeugen sind notorisch unzuverlässig. Die Geschichte ändert sich mit jedem Mal, wenn sie erzählt wird, und wird an jedes beliebige Publikum angepaßt, erweitert und ausgeschmückt, bis die Endversion nur noch ein verzerrtes Abbild der Wahrheit ist. Natürlich kann einem auch das Gedächtnis einen Streich spielen. Bilder können durch Gefühle verschleiert werden und erst
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