Kopfloser Sommer - Roman
interessieren. Wenn es im Fernsehen einen Beitrag in den Nachrichten gab, saß ich bei meinen Eltern und sah ihn mir an. Was wir sahen, war erschreckend, denn es ging stetig abwärts. Allerdings hatte es auch etwas Harmonisches, denn hier gab es endlich ein Terrain, auf dem wir uns einig waren. Mutter war überzeugt, dass viele Familien im Land sich in einer ähnlichen Situation befanden. Wenn nicht in einer noch schlimmeren. Die Regierung müsse bald etwas unternehmen, meinte Vater, um den Handel mit Immobilien wieder in Schwung zu bringen, sonst bräuchten wir eine neueRegierung. Das war auch meine Meinung. Ich regte mich über die unmöglichen Politiker auf und benutzte Schimpfworte, die eigentlich streng verboten waren, aber ich wurde nicht einmal ermahnt.
Mich interessierte auch die sogenannte Finanzkrise. Alles hing ja zusammen, wie Mutter und Vater mir immer wieder erklärten. Sie konnten sich so in dieses Thema hineinsteigern, dass sie völlig vergaßen, wie enttäuscht sie von einander waren. Manchmal stellte ich mich dümmer, als ich war, nur um sie dazu zu bringen, mir alles noch einmal zu erklären. Es verbesserte ganz einfach die Stimmung.
In der Schule verblüffte ich unseren Gemeinschaftskundelehrer. Wenn es irgendwo auf der Welt einen Bankencrash gab, wusste ich es als Erste. Ich wurde an die Tafel gerufen und musste meinen Klassenkameraden erklären, wie alles zusammenhing. Vor allem China mussten wir im Auge behalten. Kollabierte die Wirtschaft in China, brach sie auch in den USA zusammen, und dann hätten wir in Europa bald ein ernsthaftes Problem. Auch in Dänemark. Es würde zu Arbeitslosigkeit kommen und Auswirkungen auf den Wert von Immobilien haben. Dass der Immobilienmarkt am Boden ist, wäre noch freundlich ausgedrückt. Dann gäbe es überhaupt keinen Boden mehr.
Amalie hatte keine Lust, mir zuzuhören, sie meinte, ich hätte nicht alle Tassen im Schrank. Vor allem, als ich nicht zu ihrer Fete ging, nur weil eine Sondersendung über die Krise auf Island kam. Ihr älterer Bruder, der auch auf der Fete war, schickte mir eine SMS: Wieso kommst du nicht? Es hatte keinen Sinn, es ihm zu erklären. Es war einfach schön, mit Vater und Mutter zu Hause zu sitzen und die armen Isländer zu bedauern, denen es noch schlechter ging als uns. Amalies Fete war nicht so wichtig, und ihr großer Bruder musste warten. Aber ich gebe zu, es tat weh, als ich später hörte, dass er aufder Fete mit einem Mädchen aus der Zehnten geknutscht hatte.
Wenn im Fernsehen etwas über die Finanzkrise oder den Immobilienmarkt lief, war das in Ordnung. Darüber hinaus gab es nichts, worüber sie sich verständigen konnten. Mehr und mehr lebten sie ihr eigenes Leben, allerdings unter demselben Dach. Und unter diesem Dach mussten Jacob und ich auch leben. Nicht nur, dass sie nicht mehr in einem Zimmer schliefen, sie hörten auch auf, zusammen zu essen. Sie ignorierten, ja, sie schikanierten sich geradezu. Dies mitzuerleben war ziemlich anstrengend. Eines Abends kam Mutter in mein Zimmer und vertraute mir an, was sie gerade getan hatte. Offenbar wollte sie sich zusammen mit mir darüber amüsieren.
»Ich habe das Licht im Wohnzimmer ausgeschaltet. Weil ich jetzt ins Bett gehe.«
»Na und?«
Sie wollte sich ausschütten vor Lachen und musste sich am Türrahmen stützen. Ganz nüchtern war sie vermutlich nicht mehr.
»Er sitzt noch im Wohnzimmer und liest Zeitung«, platzte sie schließlich heraus.
»Und wieso hast du das Licht ausgeschaltet?«
Sie stieß mich an, um mich auch zum Lachen zu bringen. Aber ich wollte nicht, ich fand es eher traurig, denn ich konnte mir vorstellen, was sich abgespielt hatte. Wenn sie das Licht im Wohnzimmer ausschaltete, obwohl er noch drinnen saß, ignorierte sie ihn. In ihren Augen war das Wohnzimmer leer, er existierte für sie nicht länger, und es gab auch keinen Grund, das Licht brennen zu lassen.
Ich stand auf und ging zu Vater, der noch immer im Dunklen saß. Er beschwerte sich lautstark über Mutter, und ichverstand nicht recht, warum er nicht einfach aufgestanden war und das Licht wieder eingeschaltet hatte. Aber er war wohl der Meinung, dass ich sehen sollte, was sie getan hatte. Ich kommentierte es nicht weiter, schaltete nur das Licht ein und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Wir wünschten uns eine gute Nacht, dann las er weiter in seiner Zeitung.
Das Komische an ihrer Aktion könne ich nicht sehen, erklärte ich meiner Mutter und bat sie, sich zusammenzureißen und sich
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