Kopfloser Sommer - Roman
mindestens ein halbes Jahr zusammenzuwohnen, anderenfalls drohe ihnen die Zahlungsunfähigkeit. Aber sie würden anständig miteinander umgehen, sagte Mutter. Kein Problem, immerhin sind wir erwachsene Menschen. Vater war ganz ihrer Meinung. Dann redeten sie durcheinander, bis sie plötzlich sehr lange still waren. Jacob und ich nippten an unserem Holundersaft. Aber einen Kuss würden wir nicht mehr sehen, fügte Mutter hinzu. Das war nicht so schlimm, denn es war ohnehin lange her, seit wir den letzten Kuss gesehen hatten.
»Aber ihr seid doch noch immer verheiratet?«, sagte Jacob.
»Auf dem Papier, ja«, erklärte Vater geduldig. »Noch ein halbes Jahr. Aber tatsächlich sind wir nur noch Freunde.«
»Und in einem halben Jahr zankt ihr euch wieder?«
»Nein, natürlich nicht …«
Es war nicht einfach, den Sachverhalt so zu erklären, dass Jacob ihn verstand. Mutter und Vater versuchten es vergeblich, sie taten mir leid. Sie hätten uns erst von der Scheidung erzählen sollen, nachdem sie sich über den Ablauf im Klaren waren. Im Nachhinein sagt sich so etwas natürlich leicht. Sie entschuldigten sich und verstanden, dass wir verwirrt waren.
»Passiert ist passiert«, sagte ich. »Aber ihr tut doch, was ihr könnt.«
Sie freuten sich über meine Reaktion. Mutter drückte unter dem Tisch meine Hand. Sie seien schließlich nicht Herr über den Wohnungsmarkt, fügte sie hinzu. Nun ging es darum, zusammenzuhalten und nach vorn zu schauen.
»Ein halbes Jahr ist schnell vergangen«, beruhigte ich sie.Nun war ich es, die ihnen aufmunternd zulächelte.
Und so viel muss ich zur Ehrenrettung meiner Eltern sagen, sie verhielten sich tatsächlich anständig. Jedenfalls zunächst. Sie stritten sich nicht mehr, wenn wir dabei waren. Sie schimpften kaum noch mit Jacob und mir, uns wurde mehr gestattet als bisher. Und wenn wir traurig waren, schienen sie noch trauriger zu sein.
Nach einem Monat jedoch spürte ich, dass unter der Oberfläche etwas überhaupt nicht in Ordnung war. Und dass sie versuchten, es vor uns zu verheimlichen, war am Schlimmsten. Mutter spülte sich ständig die Augen und behauptete, sie hätte eine Augenentzündung, aber in Wahrheit war sie deprimierter, als sie zugeben wollte. Und ich muss gestehen, ich hielt eher zu ihr. Denn zum einen hatte er sie betrogen, und zum anderen fing er an, abends viel zu arbeiten. Wir sahen ihn immer seltener. Er ist Hochschullehrer und unterrichtet häufig abends, aber in dieser Zeit hatte er ausgesprochen viel Unterricht in den Abendstunden. Oft kam er erst spät in der Nacht nach Hause. Mutter und ich wussten genau, dass es nicht am Unterricht lag. Es gab noch immer diese andere Frau.
Ich finde, man kann Mutter nicht vorwerfen, dass sie abends ein Glas Wein trank, um ihre Nerven zu beruhigen. Wenn es sehr spät wurde, bis Vater nach Hause kam, saß sie oft wach da und war ziemlich benebelt. Ich konnte auch nicht schlafen. Bevor ich zu Bett ging, schaute ich meist ein letztes Mal ins Wohnzimmer, und wenn Mutter im Sessel schlief, half ich ihr ins Bett.
Und als sei das alles noch nicht genug, bekam Jacob in dieser Zeit Albträume. Ich tröstete ihn, so gut ich konnte. Aber es ging ihm einfach nicht gut. Auch in der Schule hatte er Probleme. Jacob wurde zu einem Schulpsychologen geschickt. Im Grunde fehle ihm nichts, beruhigte er uns. Jedenfalls nichts Ernstes. Jacob sei nur ein ›hypersensibles Kind‹, wie er sich ausdrückte. Also nicht krank. Aber er fühle sich insgesamt nicht geborgen, und das müsse man in den Griff bekommen, damit es nicht überhandnehme.
Aber wie bekamen wir das in den Griff? Wieder muss ich sagen, dass meine Eltern taten, was sie konnten. Vater nahm sich zusammen und blieb abends häufiger zu Hause. Und Mutter trank nicht mehr so viel. Die Äußerungen des Schulpsychologen hatten sie wirklich beeindruckt. Wenn es Jacob besser gehen sollte, mussten wir eine liebevolle, geborgene Atmosphäre für ihn schaffen. Wir versuchten es und verbrachten viel Zeit damit. Ich gewöhnte mich an die Rolle in der zweiten Reihe – das wäre ja auch noch schöner gewesen, mir fehlte ja nichts.
Es sah so aus, als würden unsere Anstrengungen sich auszahlen: Jacob wurde allmählich ruhiger, Mutter und Vater atmeten erleichtert auf. Nur ich fühlte mich merkwürdigerweise einigermaßen unwohl mit der Situation. Meiner Ansicht nach gingen meine Eltern beinahe zu anständig miteinander um.
Ich fing an, mich für die Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt zu
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