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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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wie eine Erwachsene zu benehmen. Ich bin noch immer überrascht, dass ich so etwas gesagt habe; ich glaube, ich hätte es nicht gewagt, wenn sie nüchtern gewesen wäre. Ihr war es furchtbar peinlich und sie versprach, es nie wieder zu tun. Aber im gleichen Atemzug behauptete sie, Vater würde solche Spielchen auch mit ihr treiben. Ihrer Ansicht nach war er noch viel schlimmer.
    Als Mutter eines Abends mit einer Freundin in der Stadt war und einen fremden Mann mit nach Hause brachte, spitzte sich die Situation zu. Es ließ sich nicht vermeiden, dass ich mit anhören musste, wie sie miteinander schliefen. Ich hatte ein ganz schlechtes Gefühl, und es wurde nicht besser, als ich die Haustür und Schritte im Flur hörte. Vater kam nach Hause. Ich schlich zur Zimmertür und öffnete sie einen Spalt, um besser mithören zu können. Vielleicht wurde ich gebraucht, falls es zu einer Prügelei zwischen den beiden Männern kam; Mutter war zu betrunken, um sie zu trennen.
    Sie hätte geglaubt, er würde bei seiner Freundin übernachten, verteidigte sich Mutter. Vater regte sich überhaupt nicht auf. Er begann sich mit Mutters Gast zu unterhalten, wollte wissen, wer er war und wo er arbeitete. Es endete damit, dass alle drei im Wohnzimmer saßen, Bier tranken und den am Boden liegenden Immobilienmarkt diskutierten. Geradezu rührend einig waren sie sich darüber, dass bald etwas passierenmüsse. Doch als Vater vorschlug, ihr Gast solle doch seine Hälfte der Wohnung kaufen, dann könne er endlich ausziehen, war Mutter beleidigt. Aber auch Mutters Bekanntschaft war nicht so einfach zu überzeugen, denn er hätte seine Eigentumswohnung in Nørrebro verkaufen müssen. Und das war ohne einen erheblichen Geldverlust kaum möglich. Außerdem kannte er Mutter ja kaum, sie waren sich doch gerade erst in einer Kneipe begegnet. Er wolle jetzt auch keineswegs unhöflich sein, erklärte er, aber es sei schon spät und er müsse sehen, dass er nach Hause komme.
    Als er gegangen war, wurde es sehr still. Manchmal ist die Stille das Schlimmste. Und sie bleibt, egal wie lange man liest oder wie gut die Gespenstergeschichten sind.
    Ein halbes Jahr vergeht schnell, hatte ich gesagt, vor allem, um meine Eltern zu beruhigen. Es war nicht wahr, und das wusste ich auch. Dieses halbe Jahr zog sich dahin. Und als es endlich vorbei war, hatte der Immobilienmarkt sich nicht erholt. Es war eher noch schlimmer geworden. Ich flehte meine Eltern an zu verkaufen, selbst wenn sie dabei Geld verloren, denn irgendetwas musste geschehen. Schließlich bissen sie in den sauren Apfel und verkauften die Wohnung zu einem Preis, der über dem ursprünglichen Kaufpreis lag, aber deutlich unter dem realen Wert. Ich hatte Schuldgefühle, weil ich sie gedrängt hatte, aber letztendlich war es doch ihre eigene Entscheidung gewesen. Sie hielten es auch nicht mehr aus.
    Merkwürdigerweise überlebten beide, keiner von ihnen musste am Hungertuch nagen. Es wurde auch niemand auf die Straße gesetzt, irgendwie ging das Leben weiter.
    »Ärgerlich ist es schon, wenn man bedenkt, dass wir die Wohnung auch gleich hätten verkaufen können«, meinte Mutter. »Das Warten hat’s nicht gerade besser gemacht.«
    Sie schaute Vater an, der ihr nicht widersprach, die Stimmung trübte sich. Bis ich mich einmischte und sagte, was siegern hören wollten: »Ihr habt das so gut gemacht, wie es ging. Es ist doch nicht eure Schuld, es liegt an der Immobilien- und Finanzkrise.«
    Sie seufzten dankbar, die Stimmung hellte sich wieder auf, wir redeten über andere Dinge. Es ging jetzt darum, neue Wohnungen zu suchen, sowohl für uns wie für Vater. Mutter fand das Haus auf dem Land, und er eine kleinere Wohnung in der Stadt. Dann haben wir versucht weiterzuleben und die Scheidung zu verdrängen.
    Selbstverständlich vermissen wir unseren Vater, aber vieles ist jetzt auch leichter. Abends streitet sich niemand mehr flüsternd, und niemand schaltet irgendjemandem einfach das Licht aus. Wir müssen uns nur noch an unser neues Zuhause gewöhnen. Jacob und ich haben Mutter versprochen, dem Haus eine Chance zu geben. Sie weiß genau, dass ich meine Freundinnen in der Stadt vermisse, aber immerhin sehe ich sie ja in der Schule. Deshalb habe ich die Schule auch nicht gewechselt. Aber Jacob wird mich vermissen, wenn ich zu Vater ziehe. Und ich werde ihn vermissen. Aber man kann nicht alles haben, meint Mutter.
    Manchmal überkommt mich eine ungeheure Lust, einfach abzuhauen, davonzulaufen und in einen Zug

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