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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ich auch bei Vollmond nackt darin herumlaufen? Nein, danke. Ich bin einmal mit bloßen Füßen über den Rasen gelaufen und kleine Steinchen und Äste haben mich in die Fußsohle gepiekst. Wenn man zwischen den Bäume läuft, wo kein Gras wächst, ist es sicher noch schlimmer. Ekelige Insekten setzen sich auf die nackte Haut, stechen und saugen Blut. Es sei denn, man trägt Gummistiefel. Ich habe ein Paar rote Gummistiefel mit kleinen gelben Blumen darauf.
    Ich schaue zwischen die Bäume und sehe im Schatten des dichten Laubs zwei nackte Menschen herumlaufen – das Mädchen sieht mir ähnlich und trägt meine Gummistiefel. Als ich aus meinen Gedanken aufschrecke, sieht Anders mich mit einem schiefen Lächeln an. Eine etwas eigenartige Situation, bis Jacob mit der leeren Schubkarre zurückkommt.
    »Darf Emilie unser Geheimnis sehen?«
    »Was meinst du?«
    Jacob ist einverstanden, aber nur unter der Bedingung, dass ich es niemandem erzähle. Ich schwöre, es nicht weiterzuerzählen, und Jacob führt mich zu einem großen Busch und zieht die Zweige zur Seite. Dahinter öffnet sich eine Höhle, wir kriechen hinein. Wir müssen ein bisschen zusammenrücken, finden aber beide darin Platz. Das Laub schließt die Höhle dicht ab, es ist fast dunkel.
    »Als Anders klein war, hat er sich oft hier versteckt. Dann konnten seine Eltern ihn nicht finden. Jetzt sind sie beide tot. Traurig, oder?«
    »Ja, sehr«, sage ich. »Hat er dir sonst noch etwas erzählt?«
    »Alles Mögliche.«
    »Zum Beispiel?«
    »Es gibt noch eine Höhle hier im Garten, die man aber nie findet, wenn man sie nicht kennt. Er hat versprochen, sie mir zu zeigen, er weiß nur nicht, wann er Zeit dafür hat. Kann er ein bisschen bei uns bleiben?«
    »Er wird noch anderes zu erledigen haben, Jacob.«
    »Wir können ihn doch fragen. Mutter kümmert sich doch sowieso nicht um den Garten. Und Anders sagt, er wuchert zu. Man kann nicht mal mehr die Stauden sehen, die er um den Rasen gepflanzt hat.«
    »Die Stauden?«
    »Weißt du nicht, was das ist?«
    Natürlich weiß ich es, aber wirklich sicher bin ich nicht. Ich fahre Jacob lächelnd durch die Haare. Anders hat bereits begonnen, ihm das Gärtnern beizubringen.
    »Was hat er denn sonst noch erzählt? Hat er etwas über den Unfall gesagt, bei dem seine Eltern ertrunken sind?«
    In diesem Moment werden die Zweige vor dem Eingang zur Seite gezogen und Anders schaut zu uns herein. Da in der Höhle kein Platz mehr ist, setzt er sich in die Öffnung. Peinliches Schweigen. Ich frage mich, ob er gehört hat, dass ich nach seinen Eltern gefragt habe. Er kaut auf einem Grashalm.
    »Wie geht’s deiner Beule?«, erkundige ich mich.
    »Oh, danke. Es zieht ein bisschen unter dem Verband. Ich glaube, sie wächst noch. Das wird ein Horn.«
    »Ein Horn?« Ich fasse mit einer Hand nach seinem Kinn und drehe sein Gesicht zu mir. Natürlich kann ich nichts sehen, aber ich mag ihn nicht loslassen und streiche ihm stattdessen leicht über die Bartstoppeln. Wir schauen uns an, und ich bin ziemlich sicher, dass er rot wird. Ich habe einen erwachsenen Mann zum Erröten gebracht. Irre.
    »Müsste nicht auch auf der anderen Seite eine Beule kommen?« Jacob sieht mir über die Schulter.
    »Schon, es sei denn, er wird ein Einhorn«, sage ich und lasse Anders los. Er zieht seinen Kopf zurück und räuspert sich. Plötzlich kommt es mir heiß vor in der Höhle.
    Jacob behauptet, man könne kein Horn bekommen, wenn man mit einer Keule an die Stirn geschlagen wurde. Und er will wissen, ob es tatsächlich eine zweite Höhle im Garten gibt, auf dem anderen Grundstück? Eine Höhle, die noch größer und noch schwerer zu finden ist, wenn man sie nicht kennt? Anders nickt und fügt hinzu, der Garten sei voller Geheimnisse. Jacobs Augen leuchten: Leben etwa gefährliche Tiere zwischen den Bäumen? Anders will das nicht ausschließen. Auf jeden Fall existieren geheime Gänge im hohen Gras, und es gibt einen alten gefällten Baum, der aussieht wie ein Krokodil.
    »Oder wie ein Flugsaurier«, findet Jacob.
    Anders nickt.
    »Lebt er? Hat er einen Kopf zwischen den Zähnen den er zerbeißt, bis Blut spritzt?«
    Anders schaut mich an und lächelt, dann steht er auf, um zu seiner Arbeit zurückzukehren, seine Pause ist vorbei. Er wird uns später herumführen, verspricht er. Dann können wir mit seiner Taschenlampe vielleicht auch in den Brunnen gucken, schlägt Jacob vor. Aber aus irgendeinem Grund findet Anders den alten Brunnen nicht so

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